Ist von Tierversuchen die Rede, denken wir intuitiv an das sprichwörtliche Versuchskaninchen. Lange galt es als das klassische Versuchstier in Forschungslaboren. Der Begriff ist im Laufe der Zeit zu einem abwertenden Synonym für eine Person geworden, an oder mit der etwas getestet wird. Im Zuge der Forschung zu Corona-Impfstoffen wird das Wort heute wieder verstärkt genutzt. Eine Spurensuche.
Entstanden ist der Begriff des Versuchskaninchens durch das häufige Verwenden von Kaninchen in der medizinischen Forschung des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Interessanterweise ist im Englischen – aus ähnlichem Grund – vom guinea pig, also dem Meerschweinchen, die Rede. Seitdem hat sich jedoch die Forschungslandschaft deutlich gewandelt.
Medizingeschichte dank Versuchen mit Kaninchen
Historisch gesehen hat das Kaninchen zu einigen bedeutenden medizinischen Entdeckungen der vergangenen zwei Jahrhunderte beigetragen: Im Jahr 1885 forschte Louis Pasteur im Rahmen von Versuchen mit Hunden und Kaninchen erstmals an einem Impfschutz gegen Tollwut. Er entwickelte somit eine wirksame Waffe gegen die auch heute noch tödliche Infektionskrankheit. Auch die Entdeckung des Insulins gründet sich auf Versuchen mit Kaninchen und Hunden. Dafür erhielten die Wissenschaftler Frederick Banting und John J. R. Macleod 1923 den Nobelpreis für Medizin. Erst diese Versuche ermöglichten das Verständnis für die Wirkung des Insulins auf den Blutzuckerspiegel und die Entwicklung neuer Therapien. Auch der Wissenschaftler Arvid Carlsson erhielt im Jahr 2000 einen Nobelpreis – für die Entwicklung einer Therapie gegen Morbus Parkinson. Carlsson hatte zuvor mithilfe von Kaninchen festgestellt, dass die Gabe von L-Dopa (Vorstufe des Botenstoffs Dopamin im Gehirn) die Symptome bei Parkinson-Patient*innen lindern könnte.
Heute spielen Kaninchen in der Forschung zahlenmäßig mit rund 3 % aller Versuchstiere nur noch eine Nebenrolle. Sie wurden weitgehend durch Mäuse (69 %), Ratten (9,3 %) oder Fische (14 %) ersetzt. So sank der relative Anteil der Kaninchen an der Gesamtzahl der Versuchstiere in den vergangenen 20 Jahren um fast die Hälfte: von gut 6 % im Jahr 2000 auf zuletzt rund 3,3 % im Jahr 2019 und damit auf Rang 4 der häufigsten Versuchstierarten. Auch die absolute Zahl der Kaninchen sank im gleichen Zeitraum von gut 110.000 Tieren auf zuletzt rund 91.000 Tiere (-17 %). In den Jahren 2011 und 2018 lag die Zahl der Versuchskaninchen sogar deutlich unter 90.000 (siehe Grafik).
Versuchskaninchen ohne „Versuch“
Die heute mit Kaninchen (wissenschaftlich Oryctolagus cuniculus) stattfindenden Tierversuche dienen zu mehr als 80 % der Produktion von Antikörpern. Diese Proteine lassen sich in der biomedizinischen Forschung und der klinischen Diagnostik zum gegenwärtigen Zeitpunkt oft nur durch Immunsysteme von Tieren gewinnen. Dazu wird einem Tier ein Antigen gespritzt. Der Vorteil: Kaninchen bilden im Vergleich zu anderen häufigen Versuchstieren wie Mäusen und Ratten besonders starke Antikörper und haben ein deutlich größeres Blutvolumen.
Doch auch das ändert sich zunehmend. Immer mehr alternative Möglichkeiten, Antikörper zu gewinnen, werden verfügbar oder zeichnen sich ab. So könnten etwa „Mini-Antikörper“, sogenannte Nanobodies, einen Teil der bisher in Kaninchen produzierten Antikörper ersetzen. Diese Antikörper werden aus dem Blut von Lamas oder Alpakas gewonnen. Sie lassen sich aufgrund ihrer geringen Komplexität biotechnisch in großen Mengen herstellen. Auch Verfahren, die gänzlich im Reagenzglas (in vitro) stattfinden (z.B. durch das Antikörper-Phagendisplay), gewinnen an Bedeutung.
Überprüfung der Sicherheit von Chemikalien und Arzneimitteln
Zu den anderen 20 % der Versuche mit Kaninchen zählen unter anderem auch die Giftigkeitsprüfungen von Chemikalien oder potenziellen neuen Wirkstoffen für Arzneimittel. Diese so genannten toxikologischen Tests sind Bestandteil der Qualitäts- und Sicherheitsprüfungen von Arzneimitteln, Chemikalien, Bioziden und Pflanzenschutzmitteln. Als Nachweis zur Sicherheit chemischer Substanzen für Mensch und Umwelt sind diese Tests auf europäischer Ebene durch die EU-Chemikalienverordnung REACH geregelt. Von den 16 % (393.257) aller Versuchstiere, die im Jahr 2019 in der Qualitätskontrolle, Toxikologie und anderen Unbedenklichkeitsprüfungen innerhalb Deutschlands zum Einsatz kamen, waren rund 4,2% (16.375) Kaninchen.
Forschende setzten Versuchskaninchen in der Vergangenheit häufig bei den sogenannten Pyrogen-Tests ein. Dabei handelt es sich um einen Sicherheitstest. Dieser stellt fest, ob bestimmte Substanzen in Medikamenten Fieber erzeugen. Die Zahl der eingesetzten Tiere in solchen Tests lag in den vergangenen Jahren in Deutschland zwischen 6000 und 7000 Tieren pro Jahr.
In diesem Bereich wird bereits seit Jahrzehnten die Zahl der Versuchstiere durch den Bakterien-Endotoxin-Test (BET) bzw. Limulus-Amöbozyten-Lysat (LAL) reduziert. Seit 2010 besteht zudem die Möglichkeit, in bestimmten Fällen auf den Monozyten-Aktivierungstest (MAT), eine tierversuchsfreie Technologie mit menschlichen Blutzellen, zurückzugreifen. Die Genehmigung der Pyrogentests am Kaninchen ist seitdem erschwert, was zu einem Rückgang bei den Versuchskaninchen geführt hat. Das Paul-Ehrlich-Institut erwartet hier einen weiteren Rückgang an Tierversuchen mit Kaninchen. In einer Sitzung im Juni 2021 hat das EDQM (European Directorate for the Quality of Medicines) die Absicht bekanntgegeben, den Pyrogentest am Kaninchen in den kommenden fünf Jahren komplett im Arzneibuch zu ersetzen.
Hühnerei ersetzt Draize-Augenreizungstest
Auch beim Draize-Augenreizungstest, einem Verfahren, das seit 1944 angewandt wird, hat die Zahl der Tiere aufgrund von tierversuchsfreien Technologien wie den Hühnerei-Test (HET-CAM) deutlich abgenommen. Waren es 2014 bereits nur noch 221 Tiere, die in Versuchen eingesetzt wurden, lag deren Zahl im Jahr 2019 bei 23. Ein ähnlicher Trend zeichnet sich in der gesamten EU ab.
Schwieriger lassen sich Tests an Kaninchen zum Beispiel in der Entwicklungstoxizität verringern: Die Untersuchung von schädlichen Wirkungen auf den sich entwickelnden Embryo/Fötus lässt sich kaum außerhalb eines lebenden Organismus simulieren. Auch hier kommen neben Ratten noch häufig Kaninchen zum Einsatz (5200 Tiere im Jahr 2019).
Keine Kaninchen für die Kosmetikindustrie – Kurzfilm „Save Ralph“ irreführend
Für die Zulassung von kosmetischen Produkten sind Tierversuche in der EU grundsätzlich verboten: Seit 2013 gilt auf EU-Ebene überdies ein Vermarktungsverbot von Kosmetika, deren Inhaltstoffe im Tierversuch getestet wurden. In Deutschland verbietet das Tierschutzgesetz (TierSchG) den Einsatz von Tieren für dekorative Kosmetikprodukte bereits seit 1986. 1998 folgte eine Ausweitung des Verbots für die Entwicklung von pflegenden Kosmetika.
Für Aufsehen sorgte im Frühjahr 2020 der Kurzfilm „Save Ralph“ von der Tierschutzorganisation Humane Society International. Die Kampagne wurde von vielen deutschen Medien aufgegriffen. Der Film zeigt das animierte Versuchskaninchen Ralph. Es „arbeitet“ als Testobjekt von Kosmetikprodukten und spricht über seinen „Beruf“. Der Film verschweigt die Tatsache des EU-weiten Verbots, viele Fakten und Hintergründe bleiben unerwähnt. So suggeriert der Film einen Einsatz von Kaninchen, den es so nicht mehr gibt.
Fazit
Es gibt sie also noch – die Versuchskaninchen. Jedoch hat ihre Bedeutung seit der Zeit von Pasteur, Banting und Macleod deutlich abgenommen. Heute kommen sie zum größten Teil in der Produktion von Antikörpern zum Einsatz. An ihre Stelle in der biomedizinischen Forschung sind vielfach andere Tierarten gerückt, vor allem Mäuse, Ratten oder Fische. Ein Großteil der klassischen Versuche mit Kaninchen wurde allerdings durch tierversuchsfreie Technologien ersetzt.
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