Patient*innen sprechen über ihren „wunden Punkt“
Der Einsatz von Tierversuchen wird in der Öffentlichkeit kontrovers und emotional diskutiert. Meinungen bilden sich meistens intuitiv. Einer Vielzahl von Menschen ist nicht bewusst, dass für die Erforschung von Krankheiten und der Entwicklung von Therapien für Patient*innen Tierversuche erforderlich sind. Es fehlt an verlässlichen Informationen, Fakten und Hintergründen.
Denn bevor neue Wirkstoffe auf den Markt oder in die klinische Prüfung kommen, sprich, bevor sie am Menschen getestet werden, müssen sie im Tierversuch getestet werden (siehe weitere Informationen zur Medikamentenentwicklung). Mit dem Projekt #meinwunderpunkt lässt die Informationsinitiative Tierversuche verstehen Menschen mit Krankheiten zu Wort kommen, denen durch Erkenntnisse aus der Forschung geholfen wird oder die noch auf neue Durchbrüche in der Forschung hoffen.
Long Covid | Hintergrundinformationen
Interview: Einblick in die aktuelle Forschung
Die Corona-Pandemie hat ein neues Krankheitsbild hervorgebracht. Viele Patient*innen leiden nach einer überstanden geglaubten Covid-19-Erkrankung an Langzeitfolgen. Prof. Dr. Dr. Robert Bals, Direktor der Klinik für Innere Medizin am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg/Saar, bietet seit Juli 2020 eine Sprechstunde an. Mit „Tierversuche verstehen“ spricht er über ein uneinheitlichen Krankheitsbild, mögliche Therapieansätze, die noch ungelöste Frage des Auslösers und welche Rolle Tiere bei der Suche nach Antworten spielen können.
Hier geht es zum Interview.
Von „Long Covid“ oder auch vom „Post-COVID-19-Syndrom“ sprechen Expert*innen, wenn nach mehr als vier Wochen nach einer Erstinfektion mit dem COVID-19-Erreger noch Symptome auftreten. SARS-CoV-2 gilt als „Multi-Organ-Virus“, da mehrere Organe Schaden nehmen können (siehe Abschnitt Symptome). Einige Menschen, die die Infektion zunächst überstanden hatten und als genesen gelten, leiden noch Monate nach der Erkrankung an Langzeitfolgen. Betroffene berichten beispielsweise über anhaltende Erschöpfung, Geruchs- und Geschmacksstörungen oder Schlaf- und Angststörungen.
Laut Robert Koch Institut gibt es noch keine verlässlichen Zahlen, wie viele als „genesen“ eingestufte Personen an Langzeitfolgen leiden. Denn Betroffene bringen verschiedene gesundheitliche Voraussetzungen mit und die Krankheitsverläufe während der Corona-Infektion unterscheiden sich häufig. Einem Informationsblatt der Charité Berlin zufolge treten bei 20% der Erkrankten vier Wochen nach Infektionsbeginn noch Symptome auf, nach sechs Monaten noch bei etwa 10%. Die S1-Leitlinie zu Post Covid/Long Covid, die das aktuelle medizinische Wissen zusammenfasst und von Expert*innen erarbeitet wurde, spricht von einer Häufigkeit von bis zu 15%. Bei rund 5,3 Millionen Menschen in Deutschland, die infiziert waren (Stand: 19. November 2021), muss man von rund 800.000 Personen ausgehen, die an einer Long-Covid-Erkrankung leiden.
Für ein tieferes Verständnis der Langzeitfolgen von COVID-19, der Ursachen sowie der zahlreichen Symptome benötigt man aufgrund des vergleichsweise neuen Krankheitsbildes noch weitere Forschung. Bisherigen Erkenntnissen zufolge bekommen insbesondere Personen, die einen schweren Verlauf von COVID-19 hatten, die Langzeitfolgen zu spüren. Aber auch Personen mit einem milden Krankheitsverlauf kann es treffen. Frauen häufiger als Männer. Ebenso zählen Übergewicht oder ein hohes Alter zu den Risikofaktoren von Long Covid.
Auch die Vielzahl an Begriffen, die versuchen die Langzeitfolgen zu umschreiben, deutet darauf hin, wie schwer die Krankheit bisher zu fassen ist. Neben Long Covid taucht häufig der Begriff „Post-Covid“ oder auch „Post-COVID-Syndrom“ auf. Darunter fallen Expert*innen zufolge Beschwerden, die noch länger als zwölf Wochen nach der ursprünglichen Infektion auftreten. Die Charité spricht vom postviralen Fatigue Syndrom (PVFS), wenn sich bei Betroffenen eine anhaltende Erschöpfung einstellt. Wir verwenden hier den Begriff Long Covid, der sich nicht auf eine bestimmte Zeitspanne beziehen soll.
Kardiologische, neurologische bis hin zu psychiatrischen Beschwerden – Symptome von Long Covid äußern sich vielfältig. So wiesen die Betroffenen in der bisher größten internationalen Studie, veröffentlicht in der Fachzeitschrift The Lancet, 203 unterschiedliche Symptome auf, verteilt auf zehn Organsysteme.
Zu den häufig genannten Symptomen zählen unter anderem anhaltende Erschöpfung (auch „Fatigue“), Muskelschwäche, Schlafprobleme, Kopf- und Brustschmerzen, Angstzustände, Haarausfall, Herzklopfen, depressive Verstimmungen oder Beeinträchtigungen des Denkens (sog. „brain fog“, zu deutsch etwa „Gehirnnebel“).
Verschiedene Studien untersuchen die Häufigkeit der Symptome. So sollen laut einer groß angelegten Untersuchung mit 47.910 Proband*innen 58% der Betroffenen unter Fatigue leiden, also einer andauernden Erschöpfung. Als zweithäufigstes Symptom treten Kopfschmerzen auf (44%). 27% der Betroffenen berichten von Aufmerksamkeitsdefiziten und Haarausfall, von dem ein Viertel der Erkrankten betroffen ist.
Manche Patient*innen berichten von einzelnen Beschwerden wie der Fatigue oder Atemwegsbeschwerden, bei anderen treten wiederum mehrere Symptome gleichzeitig oder sogar Organbeschwerden auf. Die Medizinerin Claudia Ellert, selbst von Long Covid betroffen, erzählt außerdem davon, dass Belastung, z.B. durch sportliche Aktivitäten, zu Symptomen führe oder diese wieder verstärke. Oftmals treten die Beschwerden dann erst einige Tage nach der ursprünglichen Belastung auf.
So unterschiedlich die Langzeitfolgen einer Coronainfektion ausfallen, so interdisziplinär müssen sie behandelt werden. Da die Schäden sich auf den ganzen Körper verteilen, sprechen Forschende auch von einer multisystemischen Erkrankung.
Auch die bislang weitgehend unerforschte Krankheit ME/CFS bezeichnet man als multisystemisch. Patient*innen leiden unter einer schweren anhaltenden Erschöpfung, die auch als eine mögliche Folge einer Corona-Erkrankung gilt. Tierversuche verstehen hat im Rahmen des Projekts #meinwunderpunkt bereits den Patienten Manuel Wonhas zu Wort kommen lassen.
Aktuell liegen noch keine allgemeingültigen Informationen zu den Ursachen für langanhaltende Symptome vor. Expert*innen haben jedoch einige Vermutungen, was Long Covid auslösen kann.
So spricht beispielsweise die Virologin Sandra Ciesek im NDR-Podcast „Coronavirus-Update“ (Folge 67 vom 01.12.2020) davon, dass das Virus zum einen selbst für länger anhaltende Schäden sorgen kann. Das nennt man auch Persistenz des Virus, also das Überdauern von Krankheitserregern. Zum Beispiel am Riechkolben, dem Teil des Gehirns, der Sinnesreize aus der Nase verarbeitet. Zum anderen bilden sich bei Virusinfektionen manchmal sogenannte Autoantikörper. Dabei handelt es sich um Antikörper, die sich gegen den eigenen Körper wenden und für Probleme sorgen können.
Dem Antikörper-Ansatz gingen auch Forschende aus den USA in einer im Fachmagazin „Nature“ veröffentlichten Studie (Mai 2021) nach. Die Wissenschaftler*innen stellten bei Covid-Erkrankten ein hohes Level an Autoantikörpern fest. Deren Anzahl war bei schwer erkrankten Personen höher. Darunter befanden sich Autoantikörper, die sich gegen die Blutgefäße, gegen das Immunsystem oder Bestandteile des zentralen Nervensystems richteten. Eine Ursache für die Langzeitfolgen kann demnach eine Autoimmunerkrankung sein. Expert*innen sprechen hier auch von einer Fehlregulation des Immunsystems.
Eine andere Studie des Max-Planck-Zentrums für Physik und Medizin in Erlangen lässt vermuten, dass veränderte Blutzellen zu Long Covid führen können. Bei Betroffenen beobachten die Forschenden eine veränderte Größe und Dehnbarkeit von roten und weißen Blutkörperchen, die auch über einen längeren Zeitraum hinweg anhält. Damit ließen sich häufig beobachtete Gefäßverschlüsse oder auch die beeinträchtige Sauerstoffversorgung erklären.
Des Weiteren werden Entzündungsprozesse, die das Nervensystem sowie das Gehirn schädigen können, als mögliche Ursache diskutiert. Entzündungen können durch infizierte Zellen entstehen, die ihre Umgebung verändern. Damit wirken sie sich negativ auf benachbarte Zellen aus und führen zu einem veränderten Zellstoffwechsel.
Bei COVID-19 handelt es sich um ein noch neues Krankheitsbild. So heißt es beim Robert-Koch-Institut (RKI), dass weitere Forschung erforderlich ist, um nähere Informationen über Ursachen von Long Covid, die vielfältigen Krankheitsverläufe oder konkrete Therapiemöglichkeiten zu erhalten. Insbesondere zu Langzeitfolgen bei Kindern und Jugendlichen stehen noch Erkenntnisse aus. Wissenschaftler*innen arbeiten allerdings national wie auch international daran, um mehr die Langzeitfolgen von COVID-19 besser zu verstehen. Dabei spielen auch Tierversuche eine Rolle. Die Forschung mit Tiermodellen zu Long Covid steht noch am Anfang. Derzeit sind Studien mit Mäusen, Hamstern und Primaten bekannt, die für die Erforschung von Long Covid zum Einsatz kommen.
Eine im Herbst 2021 veröffentlichte Studie der Uni Lübeck zeigt, dass COVID-19 Gehirnzellen absterben lässt. Forschende haben dies in Versuchen mit Mäusen herausgefunden. Verantwortlich dafür sei das sogenannte Nemo-Protein, das durch das Virus gespalten wird. Einige Zellen benötigen Nemo jedoch, um zu überleben, sodass die Zellen bei einer Spaltung absterben. Dadurch ließen sich neurologische Symptome wie Beeinträchtigungen des Denkens (sog. „brain Fog“, zu deutsch etwa „Gehirnnebel“) oder Geschmacks- und Geruchsverlust von Long Covid erklären, heißt es in der Studie.
Ebenfalls an Mäusen forschen unter anderem Wissenschaftler*innen aus England. Sie nutzen verschiedene Mausmodelle, bei denen der ACE2-Rezeptor, den das Virus zum Eindringen in die Zelle braucht, immer in unterschiedlichen Zelltypen vorliegt. Dementsprechend infizieren sich auch immer andere Zellen mit dem Coronavirus, sodass sich der Krankheitsverlauf unterscheidet. Ein Vergleich solcher Mausmodelle mit verschiedenen Infektionsmustern kann helfen herauszufinden, welche Zellen Long Covid verursachen und wie man diese beim Menschen möglicherweise behandeln kann. Auch ob das gleichzeitige Auftreten einer weiteren Erkrankung zu chronischen Veränderungen führt, können Forschende anhand von Mausmodellen untersuchen.
Ein weiterer wissenschaftlicher Artikel berichtet über Methoden, mit denen Wissenschaftler*innen zurzeit im Mausmodell Long-Covid modellieren. Die genetische Vielfalt, die alle Menschen voneinander unterscheidet, besteht auch zwischen verschiedenen Mauslinien. Sie könnte ein guter Ansatzpunkt für die Forschung über Long Covid sein. Jede Mauslinie zeige andere grundlegende Verhaltensweisen und auch unterschiedliche Reaktionen auf eine COVID-19-Infektion, so wie auch jeder Mensch anders darauf reagiert. Eine Mauslinie weist zum Beispiel Verletzungen am Herzen auf, die bei Long-Covid-Patient*innen für das starke Herzklopfen verantwortlich sein könnten.
Neben Mäusen können auch Primaten Erkenntnisse über Long Covid liefern. So forscht das Biomedical Primate Research Center in den Niederlanden an Makaken. Nach der überstandenen milden Infektion waren nach sechs Wochen bei der Hälfte der Versuchstiere noch Lungenschäden nachweisbar. Außerdem stellten die Forschenden nicht nur im Atmungssystem, sondern auch in Herz, Niere und Leber Beeinträchtigungen durch das Coronavirus fest. Auch nach einer milden Infektion können demnach Organbeschwerden auftreten.
Hamster können sich ebenfalls mit SARS-CoV-2 infizieren und somit dazu dienen, die Mechanismen der Krankheit besser zu verstehen. Ergebnisse von Wissenschaftler*innen aus Kanada geben Aufschluss über Covid-19 als Multi-Organ-Virus. Das Wissen darüber soll auch dabei helfen, Therapien gegen Langzeitfolgen zu entwickeln. Auch in der allgemeinen Corona-Forschung kommen Tierversuche zum Einsatz, unter anderem an Rhesusaffen. Weitere Informationen zu Tierversuchen und Corona finden sich auch im Kompass Tierversuche, den Tierversuche verstehen seit April 2021 jährlich veröffentlicht.
„Die eine“ Therapie gibt es noch nicht, da Long Covid noch zu unerforscht ist. Vielmehr existieren viele unterschiedliche und interdisziplinäre Ansätze, Betroffene zu behandeln oder zumindest Symptome zu lindern. „Die Therapie orientiert sich an den Symptomen. Für eine spezifische Therapie gibt es bislang noch keine wissenschaftlich belastbaren Belege“, heißt es auch in der S1-Leitlinie zu Long-Covid, die das aktuelle medizinische Wissen zusammenfasst und von Expert*innen erarbeitet wurde.
Die Behandlung mit Sauerstoff gilt als ein möglicher Ansatz, der allerdings auch noch weiterer Forschung bedarf. Bei der Sauerstofftherapie atmen Patient*innen für etwa zwei Stunden pro Tag in einer Druckkammer reinen Sauerstoff. Wissenschaftler*innen hoffen, dass sich durch den Sauerstoff Entzündungsreaktionen umformen. Eine Blutwäsche stellt einen weiteren Ansatz dar. Damit lassen sich schädliche Substanzen aus dem Blut entfernen, wodurch Ärzt*innen schwere Luftnot behandeln könnten.
„Der aktuelle Ansatz besteht darin, zu erfassen, welche Beschwerden die Betroffenen individuell haben. Klagen sie über Luftnot, über kognitive Störungen, also Probleme mit der Konzentration oder dem Erinnerungsvermögen oder Herz-Rhythmus-Störungen“, erklärt Prof. Dr. Dr. Robert Bals im Interview mit Tierversuche verstehen. Er ist Direktor der Klinik für Innere Medizin am Universitätsklinikum des Saarlandes und bietet dort eine Long-Covid-Sprechstunde an. „Wir versuchen also, dieses uneinheitliche Krankheitsbild von Long Covid sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie abzubilden.“
So kommt bei psychischen Störungen eine psychiatrische Behandlung hinzu, bei kardiologischen Problemen machen Ärzt*innen beispielsweise Blutuntersuchungen und EKG. Zudem gehört häufig eine physiotherapeutische Behandlung zum Behandlungsplan, um den Belastungszustand der Betroffenen wieder zu steigern. Die Gefäßchirurgin Dr. Claudia Ellert – selbst von Long Covid betroffen – weist jedoch darauf hin, die eingeschränkten Kräfte einzuschätzen und die jeweilige Belastung daran anzupassen. Dies ist auch unter dem Begriff „Pacing“ bekannt. Die Strategie eigne sich insbesondere für Betroffene, die unter Belastungsintoleranz leiden. Bei zu starker Belastung könnten sich Symptome verstärken und chronisch werden.
Auch an sogenannten immunmodulatorischen Substanzen (= das Immunsystem verändernd) wird geforscht. Die „HEAL-COVID-Studie“ aus Großbritannien untersucht bei rund 2600 Covid-19-Genesenen zum Beispiel die Wirkung von Atorvastatin (Cholesterinsenker) und Apixaban (Blutverdünner). Forschende gehen außerdem davon aus, dass eine Corona-Schutzimpfung gegen Long-Covid hilft. Insgesamt müssen Forschende die Pathomechanismen, also alle Vorgänge im Körper, die zur Krankheit Long Covid führen, noch besser verstehen. Im nächsten Schritt ließen sich dann spezielle Therapien entwickeln.
In Deutschland laufen derzeit mehrere Forschungsprojekte mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu Long Covid. So zum Beispiel die „COVIMMUNE-Clin“, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert. Betroffene können sich unter anderem bei der Initiative Long Covid Deutschland (longcoviddeutschland.org) informieren, für welche Forschungsvorhaben die Wissenschaft noch Proband*innen sucht.
Viele von Long Covid Betroffene fühlen sich nicht ernst genommen und treffen bei andauernden Beschwerden auf Unverständnis in der Öffentlichkeit. Davon berichtet auch Claudia Ellert, die als Gefäßchirurgin selbst unter Langzeitfolgen leidet. In Deutschland gibt es mittlerweile eine Vielzahl an Selbsthilfegruppen, in denen Betroffene sich austauschen und vernetzen können. Eine Übersicht der Gruppen in ganz Deutschland ist ebenfalls bei Long Covid Deutschland verfügbar. Außerdem kann diese Leitlinie weiterhelfen, die Fachgesellschaften, Ärzt*innen und Betroffene in Zusammenarbeit erstellt haben. Sie bietet Informationen zu unterschiedlichen Bereichen der Erkrankung.
Long Covid | Die Patientin Dr. Claudia Ellert
Im Portrait: Dr. Claudia Ellert
Als Triathletin hatte sie vor ihrer Krankheit noch 5000 Kilometer im Jahr auf dem Rad zurückgelegt, ging regelmäßig Schwimmen und Joggen. Etwa ein Jahr nach der Infektion mit dem Covid-19-Erreger schafft Claudia Ellert (49) aus Wetzlar nur noch einen einstündigen Spaziergang am Tag. Sie leidet an den Langzeitfolgen von Covid-19, bekannt als Long Covid. Ihren Beruf als Gefäßchirurgin und leitende Oberärztin am Lahn-Dill-Klinikum in Wetzlar kann sie aufgrund der Erkrankung noch nicht wieder ausüben. Für Außenstehende sieht die Medizinerin zwar nicht krank aus, Long Covid beeinflusst jedoch ihren Alltag auch noch ein Jahr nach der Covid-19-Erkrankung.
Der Leidensweg begann Mitte November 2020. Die akute Infektion mit Covid-19 verlief bei Claudia Ellert mild mit leichten grippeähnlichen Symptomen. Zehn Tage später kam der Geruchs- und Geschmacksverlust hinzu. Claudia Ellert versuchte sich in der Weihnachtszeit im Ski-Langlauf, danach ging es ihr noch schlechter. Es folgten Herzrhythmusstörungen und eine andauernde Erschöpfung, die sogenannte Fatigue.
Etwa drei Monate nach ihrer Covid-19-Erkrankung machten sich weitere Symptome wie Konzentrationsstörungen und Muskelschmerzen bei Claudia Ellert bemerkbar. Inzwischen hatte sie auch eine Rehabilitation gemacht. Eine Therapie oder ein Medikament gegen Long Covid gibt es jedoch noch nicht. Claudia Ellert hatte zu Beginn einen Lungen- und einen Herzspezialisten aufgesucht. Letztendlich hatte sie sich als Medizinerin jedoch dazu entschieden, sich – soweit möglich – selbst um Therapien zu bemühen.
Ihr Alltag hat sich durch die Krankheit komplett verändert. Claudia Ellert musste erst lernen, mit der fehlenden Belastbarkeit, der sogenannten Belastungsintoleranz, umzugehen. Denn zu viel Belastung löst meist wieder Symptome aus, die teilweise zeitlich verzögert auftreten. Um anderen Betroffenen zu helfen, hat Claudia Ellert eine Rehabilitationsgruppe am Lahn-Dall-Klinikum ins Leben gerufen. Außerdem engagiert sie sich bei der Betroffeneninitiative Long Covid Deutschland.
An dieser Stelle möchten wir uns als Initiative Tierversuche verstehen bei Claudia Ellert bedanken, dass sie über ihren Alltag mit Long Covid berichtet hat.
Update vom 15.11.2022: Claudia Ellert arbeitet nach einer längeren Wiedereingliederung inzwischen wieder in Ihrer alten Abteilung im Lahn-Dill-Klinikum in Wetzlar in einem reduzierten Stundenumfang. Die Tätigkeiten sind an ihre derzeitigen Möglichkeiten angepasst. Ihre körperliche Leistungsfähigkeit ist weiterhin eingeschränkt, wobei aktuell Belastungen auf einem etwas höheren Niveau möglich sind.
Cochlea-Implantat | Hintergrundinformationen
19% der deutschen Bevölkerung über 14 Jahre sind hörbeeinträchtigt, schreibt der Deutsche Schwerhörigen Bund. Betroffene fühlen sich häufig von der Gesellschaft ausgeschlossen, weil ihre Möglichkeiten zur Kommunikation im Alltag eingeschränkt sind. In vielen Fällen kann bereits ein Hörgerät helfen, das die Höreindrücke im Ohr verstärkt. Doch bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder einer vollständigen Taubheit kann häufig nur noch ein sogenanntes Cochlea-Implantat (CI) Abhilfe schaffen. Es wird in die Hörschnecke, auch Cochlea genannt, zwischen Trommelfell und Hörnerv eingesetzt. Dort stimuliert es durch elektrische Impulse den Hörnerv, sodass ein Höreindruck im Gehirn entstehen kann. Weltweit wurde das Cochlea-Implantat bereits mehr als 500.000 Menschen (Stand 2017, Thomas Lenarz, HNO). Eine solche Operation gilt inzwischen als Routineeingriff. Allerdings haben CI-Träger Schwierigkeiten, feine Tonunterschiede, Musik oder Gespräche mit lauten Hintergrundgeräuschen wahrzunehmen. Forschende suchen nach Lösungen, das Hören mit einem CI so nah wie möglich an das Hören mit gesunden Ohren anzugleichen. Eine Möglichkeit bietet dabei die Optogenetik. Sie arbeitet anstelle von elektrischen Impulsen mit Licht.
Schwerhörigkeit hat unterschiedliche Ursachen und Ausprägungen. Sie bezeichnet eine beeinträchtigte Hörwahrnehmung. Im Gegensatz dazu liegt bei Taubheit oder Gehörlosigkeit ein vollständiger Verlust der Hörwahrnehmung vor. Der Hörverlust wird im Vergleich zum normalen Gehör in Dezibel gemessen. Bei einer leichten Hörminderung liegt der Verlust bei 20-40 Dezibel, bei einer mittelgradigen bei Hörminderung über 40 Dezibel und bei einem schweren Hörverlust über 60 Dezibel. Ab einem Hörverlust von 100 Dezibel spricht man von Taubheit.
Das Ohr besteht aus Außen-, Mittel- und Innenohr. Über das Außenohr werden Schallwellen durch das Trommelfell ins Mittelohr geleitet. Die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel leiten den Schall als Vibration vom Trommelfell über das Mittelohr in das Innenohr weiter. Hier sitzt die flüssigkeitsgefüllte Hörschnecke, die Cochlea. Sie registriert die Druckwellen und leitet sie über den Hörnerv als elektrische Signale in das Gehirn weiter. Im Gehirn werden diese Informationen zu einem Höreindruck verarbeitet.
Man unterscheidet zwischen einer Störung der Schall-Leitung oder einer Störung der Schallempfindung. Bei einer Störung der Schalleitung gelangt der Schall nicht normal über das Mittelohr zum Innenohr. Häufig ist eine Schädigung der Gehörknöchelchen die Ursache. Eine solche Störung kann zu Schwerhörigkeit führen, ist jedoch nicht ursächlich für eine Taubheit, da Schall zu geringen Teilen auch über den Schädelknochen wahrgenommen werden kann (Knochenleitung). Eine Störung der Schallempfindung tritt im Innenohr auf. Akustische Signale kommen hier zwar an, können jedoch nicht an das Gehirn weitergeleitet werden. Denn entweder liegt eine Störung des Hörnervs (neurale Hörstörung) oder der zentralen Hörbahn (zentrale Hörstörung) vor. Ursächlich für solche Störungen sind beispielsweise eine Infektion, eine genetisch bedingte Fehlbildung des Innenohres, Tumore oder äußere Einflüsse während der Schwangerschaft auf die Mutter, wie Medikamente, Drogen oder Infektionen.
So vielfältig wie die Ursachen für Hörschädigungen sind auch ihre Behandlungsmöglichkeiten. Bei einer akuten Ertaubung werden zunächst z.B. Antibiotika (bei bakteriellen Infektionen) oder Infusionen eingesetzt. Zudem besteht die Möglichkeit zu operieren, falls die Medikamente nicht wirken sollten.
Wenn sich das Hören langfristig nicht verbessert, kann ein Hörgerät erforderlich sein. Diese verstärken Geräusche und Töne, die am Ohr ankommen. Hörgeräte können sowohl hinter dem Ohr als auch im Gehörgang selbst getragen werden.
Wenn ein Hörgerät nicht zur Verbesserung der Hörfähigkeiten führt, können andere Ursachen zu Grunde liegen und ein sogenanntes Cochlea-Implantat (CI) erforderlich machen. Das CI ist eine Neuroprothese. Sie dient dazu, in der Hörschnecke (Cochlea) deren Funktion wiederherzustellen und besteht aus einem externen Teil mit Mikrofon, Sprachprozessor, Batterie/Akku und Spule), und einem implantierten Teil mit Spule, Signalprozessor sowie einem Stimulator und Elektroden für die Stimulation. Durch den externen Teil werden Höreindrücke aufgenommen und in elektrische Impulse umgewandelt. Diese Informationen werden über die externe Spule an die implantierte Spule in das Innenohr weitergeleitet. Hier werden die elektrischen Signale an die Elektroden in der Hörschnecke übertragen, die den Hörnerv stimulieren. Der Hörnerv nimmt diese Elektrostimulation auf und leitet sie über die zentrale Hörbahn an das Gehirn weiter, wo ein Höreindruck entsteht.
Für den Einsatz eines Cochlea-Implantats ist entscheidend, dass Cochlea und Hörnerv intakt sind. Nur so kann der durch das Implantat verarbeitete Schall über elektrische Signale an das Gehirn weitergeleitet werden. Während ein Hörgerät Höreindrücke im Ohr verstärkt, diese jedoch nicht selbst verarbeiten kann, vermag das Cochlea-Implantat, den Hörner direkt elektrisch zu stimulieren.
Ein Cochlea-Implantat wird eingesetzt, wenn ein Hörgerät nicht weiterhilft, folglich eine hochgradige Schwerhörigkeit oder eine vollständige Taubheit besteht. Es kann eingesetzt werden sowohl bei gehörlos geborenen Kindern als auch bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen, die eine hochgradige Hörschädigung oder völlige Taubheit erlitten haben. Nach einer erfolgreichen Operation folgt nach einigen Wochen ein intensives Hörtraining. Die Patient*innen müssen das Hören neu erlernen.
Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts entdeckten Wissenschaftler*innen den Zusammenhang zwischen elektrischen Impulsen und der Wahrnehmung von Geräuschen. Der Erfinder der elektrischen Batterie, der italienische Physiker Alessandro Volta, führte bereits 1790 im Selbstversuch eine elektrische Reizung seines Gehörgangs durch. Er verglich das Geräusch mit dem einer kochenden, dickflüssigen Suppe.
Die beiden russischen Forscher Gersuni und Volokhov zeigten 1936, dass wenn die Gehörknöchelchen bei Menschen entfernt werden, die Hörempfindung durch eine elektrische Stimulation bestehen bleibt. Sie bewiesen damit, dass die Cochlea der Ort ist, in dem die elektrische Stimulation während des Hörprozesses stattfinden muss. Ein weiterer Meilenstein.
Am 25. Februar 1957 setzten der Physiker André Djourno und der Otologe Charles Eyriès in Paris erstmals einem gehörlosen Patienten*innen Elektroden in den Hörnerv ein. Nach langem Training war dieser schließlich in der Lage, einfache Worte zu erkennen.
In den 1960er und 70er Jahren wurde in Tierversuchen weiter an elektrischen Stimulationsgeräten für die Hörschnecke geforscht. Als Tiermodelle etablierten sich Katzen und Meerschweinchen. Dabei stellten sich Katzen als besonders geeignet dar, da sie über ein sehr feines Gehör verfügen und sich ihr Hörsystem dem menschlichen anatomisch stark ähnelt.
Ab 1968 begann man in Amerika und wenig später auch in Australien mit der Implantation von einkanaligen und mehrkanaligen Elektrodensystemen. Ab den 1970er-Jahren wurden erste Operationen dieser Art in Europa durchgeführt.
Der Australier Graeme Clark von der Universität Melbourne implantierte im Jahr 1978 das erste mehrkanalige intracochleäre System, das über die Haut (transkutan) übertragen wurde und einen tragbaren Sprachprozessor besaß. Seitdem wurden gehörlosen Erwachsenen vermehrt Cochlea-Implantate eingesetzt.
Besonders Tierversuchen (an Katzen) ist es zu verdanken, dass die Struktur und die Funktionen der Cochlea heute so gut erforscht sind und Elektroden sicher eingesetzt werden können.
Im Laufe der Zeit wurde das CI, auch durch den technologischen Fortschritt, immer weiterentwickelt. 1991 erschien beispielsweise der erste Sprachprozessor, der hinter dem Ohr getragen werden konnte. Die Implantate werden immer kleiner und leistungsfähiger. Sie lassen sich mittlerweile an verschiedene anatomische Gegebenheiten anpassen. Aktuelle Cochlea-Implantate haben zwischen zwölf und 24 Kanäle, mit denen eine Vielzahl von Tonhöhen mit bis zu 161 Zwischenhöhen wahrgenommen werden können.
Auch wenn das heute eingesetzte Cochlea-Implantat den Betroffenen das Leben erleichtert, wird die Technik weiterhin verbessert. Feine Nuancen wie Sprachmelodie und Tonhöhen sind nur schwer zu verstehen, da die Elektroden in der Hörschnecke zu viele Nervenzellen im Umkreis stimulieren. Eine Lösung für dieses Problem könnte die Optogenetik liefern. Mehrere Forschende arbeiten aktuell an einem zukünftigen optischen Cochlea-Implantat. Sie reizen die Cochlea nicht mehr mit Strom, sondern mit Licht. Dadurch können Nervenzellen viel präziser angesprochen werden; Betroffene können unterschiedliche Tonhöhen und Klang-Nuancen besser unterscheiden und Nebengeräusche besser herausfiltern.
https://www.schwerhoerigen-netz.de/statistiken/
https://dcig.de/
http://www.auditory-neuroscience.uni-goettingen.de/hearing_the_light_DE.html
https://www.mpg.de/12025243/optogenetisches-cochlea-implantat
https://www.hno-klinik.uk-erlangen.de/ueber-uns/
http://www.informatik.uni-oldenburg.de/~iug13/ee/2.4_Cochlea_Implantat.html
https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/hno/pdf/CInfoPat.pdf
https://www.cic-berlin-brandenburg.de/geschichte-des-ci/
https://www.planet-wissen.de/natur/sinne/hoeren/pwiecochleaimplantathightechfuergehoerlose100.html
https://www.aerzteblatt.de/archiv/136885/Cochlea-Implantate-Wenn-Hoergeraete-nicht-mehr-helfen
https://www.aerzteblatt.de/archiv/167451/Hoerprothese-Licht-statt-Strom-zur-Stimulation-nutzen
https://www.mta-dialog.de/artikel/die-geschichte-des-cochlea-implantats/seite/2.html
https://www.medtronic.com/de-de/patienten/erkrankungen/hoerverlust.html
https://www.leading-medicine-guide.de/erkrankungen/ohren/taubheit#topics
https://www.netdoktor.de/krankheiten/taubheit/
Wie hört man mit einem elektrischen und einem optischen Cochlea-Implantat?
Cochlea Implantat | Die Patientin Ines Sonntag
Im Portrait: Ines Sonntag
Ines Sonntag aus Göttingen wachte eines Morgens auf und konnte auf ihrem rechten Ohr nichts mehr hören. Ein einschneidendes Erlebnis, denn es gab keine Vorzeichen. Sie hatte aus dem Nichts einen fulminanten Hörsturz erlitten. Bis heute weiß Ines Sonntag nicht, was genau zu der kompletten einseitigen Taubheit führte.
Nach verschiedenen Untersuchungen und einem gescheiterten Therapieversuch, erhielt sie 2015 zunächst ein Hörgerät. Es half ihr ein Stück weiter, brachte am Ende aber nicht den gewünschten Erfolg. Ein dreidimensionales Hören war nicht möglich. Sie konnte bei Gesprächen von Gruppen mit Hintergrundgeräuschen kaum Stimmen herausfiltern. Die studierte Biologin ist beruflich auf das Hören angewiesen. Sie musste viele Gespräche führen, auch auf Kongressen, wo Hintergrundgeräusche an der Tagesordnung waren. Auch im Alltag kam des Öfteren zu Situationen, die sie stark verunsicherten, weil sie zum Beispiel Fahrradfahrer von hinten nicht kommen hörte.
2016 erhielt Ines Sonntag an der Universitätsmedizin Göttingen ein so genanntes Cochlea Implantat. Dank dieser Neuroprothese war ein dreidimensionales Hören wieder möglich. Dadurch gewann sie ein Stück Lebensqualität zurück. Das Cochlea-Implantat ermöglicht es ihr seitdem, Gesprächen wieder besser folgen zu können. Dennoch ist das Hören nicht hundertprozentig hergestellt. So hört sie Hintergrundgeräusche um ein Vielfaches lauter als Menschen mit einem gesunden Gehör. Das ist auch ihr Wunsch an eine Weiterentwicklung des Cochlea-Implantats – eine Verbesserung des Sprachverständnisses.
An dieser Stelle möchten wir uns als Initiative Tierversuche verstehen bei Ines Sonntag bedanken, dass sie einen Einblick in ihren Alltag mit dem Cochlea-Implantat gewährt hat.
Morbus Parkinson | Hintergrundinformationen
Interview: Einblick in die aktuelle Forschung
Die Parkinson-Forschung hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Prof. Andrea Kühn von der Charité in Berlin und Prof. Jens Volkmann vom Universitätsklinikum Würzburg gehören zu den führenden Forschenden auf diesem Gebiet.
Im Gespräch mit „Tierversuche verstehen“ sprechen die beiden Forschenden über die Tiefe Hirnstimulation, geben Einblicke in die Entwicklung der Forschung und erklären, warum es in der Hirnforschung noch dauern wird, bis Computermodelle Tierversuche ersetzen.
Hier geht es zum Interview.
Morbus Parkinson ist eine langsam fortschreitende neurologische Erkrankung, die nach dem britischen Arzt James Parkinson benannt wurde. Dieser beschrieb 1817 als Erster die typischen Symptome. Durch das Absterben von Nervenzellen in der Substantia nigra, einer Region des Mittelhirns, entsteht ein Mangel an Dopamin. Dieser Botenstoff ist unter anderem für die Steuerung von Bewegungen verantwortlich. Ein Mangel an Dopamin hat typische Symptome wie Zittern und Muskelsteifheit zur Folge. Doch auch andere Teile des Nervensystems sind von der Krankheit betroffen. So kann es bereits in frühen Stadien, auch vor dem Auftreten der Bewegungsstörung, zur Schädigung der Nerven im Magen-Darm-Trakt kommen.
Parkinson ist derzeit nicht heilbar, die Symptome lasen sich sind allerdings behandeln. Mit der Entwicklung neuer Medikamente und Therapieverfahren, wie zum Beispiel den Dopaminagonisten, die bestimmte Rezeptoren für Dopamin im Gehirn stimulieren, oder der Tiefen Hirnstimulation, sind in den vergangenen Jahren Fortschritte erzielt worden, die Patient*innen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.
Die Zahl der Parkinson-Erkrankten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weltweit stark erhöht. 1990 waren es noch 2,5 Millionen Parkinson-Patient*innen. 2016 gab es bereits 6,1 Millionen.
Jedes Jahr am 11. April ist Welt-Parkinson-Tag. Es ist der Geburtstag von Dr. James Parkinson.
Viele Beschwerden entwickeln sich erst im Laufe der Jahre. Man unterscheidet zwischen den Hauptsymptomen und Begleitsymptomen.
Hauptsymptome sind typische Störungen der Bewegungsfunktionen, die sich sehr langsam entwickeln. Dazu zählen Zittern (Tremor), Muskelsteifigkeit (Rigor), Bewegungsverlangsamung (Akinese) und Störung der Halte- und Stellreflexe (posturale Instabilität).
Begleitsymptome hingegen betreffen die Bewegungsabläufe nicht. Sie können bereits in sehr frühen Phasen der Erkrankung auftreten. Zu ihnen zählen Schlafstörungen, Verstopfung, seelische und geistige Störungen (Depressionen, Angstzustände, Vergesslichkeit), vegetative Störungen, also nicht willentlich steuerbare Körperfunktionen wie Kreislaufprobleme, Erektionsstörungen, übermäßiges Schwitzen, oder vermehrter Speichelfluss, sowie sensorische Störungen, also gestörte Sinneswahrnehmungen und Empfindungen (Riech- und Sehstörungen, Schmerzen, Missempfindungen).
Parkinson ist eine neurodegenerative Erkrankung, betrifft also in erster Linie die Nervenzellen im Gehirn. Die Nervenzellen sterben in der Mittelhirnregion Substantia nigra aus bisher ungeklärten Gründen allmählich ab. Es handelt sich um Nervenzellen, die für die Herstellung und Speicherung des wichtigen Botenstoffs Dopamin zuständig sind. Dieser Botenstoff spielt eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Körperbewegungen, indem es im Gleichgewicht mit den Stoffen Acetylcholin und Glutamat die Muskelbewegungen je nach Bedarf aktiviert oder hemmt. Durch das Absterben der Nervenzellen werden die Signale nicht richtig weitergeleitet und es kommt zu den typischen Parkinson-Symptomen. Auch die Riechzellen der Nase und die Nervenzellen im Magen-Darm-Trakt verändert sich krankhaft.
Ursache für das Absterben der Nervenzellen ist nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft die Fehlfaltung des körpereigenen Eiweißes Alpha-Synuclein. Es verklumpt zu Eiweiß-Häufchen, die die Zellen schädigen, weil sie nicht abgebaut werden können. Davon sind besonders die Dopamin-produzierenden Zellen betroffen. Weil die Information über die falsche Faltung des Alpha-Synuclein von Zelle zu Zelle weitergegeben wird, breiten sich die Verklumpungen im Nervensystem aus.
Die Behandlung der Parkinson-Erkrankung ist ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn und direktem therapeutischem Nutzen für Patient*innen.
„Die Parkinson-Forschung verzeichnet derzeit einen rasanten Erkenntnisgewinn“, sagt Prof. Dr. Jens Volkmann, Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Würzburg. Es werde zunehmend klarer, wie genetische Auslöser und Umweltfaktoren die Verklumpung eines Eiweißes im Gehirn von Parkinson-Patient*innen vorantreiben und schließlich den schrittweisen Abbau von Nervenzellen hervorrufen.
„Parkinson war die erste Erkrankung, bei der das Defizit an Neurotransmittern als ursächlich erkannt und behandelt wurde, bei der später die prinzipielle Möglichkeit der Neurotransplantation erforscht wurde und bei der eine Netzwerkstörung als Ursache für die klassischen Krankheitssymptome entdeckt wurde. Ebenso ist Parkinso die erste Erkrankung, die mittels funktioneller Stereotaxie behandelt wird und bei der wir heute zunehmend besser verstehen, wie genetische und Umweltfaktoren den neurodegenerativen Prozess vorantreiben.“
Prof. Jens Volkmann, 2. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Parkinson und Bewegungsstörungen (DPG e. V.), 2017
Das Hormon Dopamin spielt eine wichtige Rolle. Es ist unter anderem auch für die Steuerung von Bewegungen wichtig. Bisherige Medikamente können Dopamin zwar eine Zeit lang ersetzen und die Symptome behandeln, aber aufhalten können sie das Voranschreiten der Krankheit nicht.
Nach neuesten Erkenntnissen beginnt die Parkinson-Erkrankung womöglich gar nicht dort, wo sie im Gehirn den bemerkbaren Schaden anrichtet, sondern im Darmtrakt oder über das so genannte Riechgehirn in der Nase.
Rund 200 Jahre nach der ersten Beschreibung der Erkrankung betrachten Mediziner*innen Parkinson heute nicht mehr als eine einheitliche Krankheit, sondern als eine Gruppe von Erkrankungen mit unterschiedlicher genetischer oder erworbener Entstehungsgeschichte, aber mit letztlich gemeinsamen, neurodegenerativen Symptomen.
Deutsche Wissenschaftler aus Würzburg und Marburg haben 2017 eine Früherkennungsmethode entwickelt, um die Erkrankung bereits vor dem Ausbruch der Symptome zu identifizieren. Diese Studie gilt als Meilenstein, da die Krankheit bereits bis zu 15 Jahre vor der Diagnose unbemerkt beginnt.
Neue Forschungsergebnisse setzen nicht nur an den Symptomen, sondern auch an den Ursachen der Erkrankung an. So sollen maßgeschneiderte Antikörper per Infusion die Ausbreitung des verklumpenden Alpha-Synuklein Proteins im Nervensystem verhindern und so Ablagerungen reduzieren. Die Antikörper gelten als sicher und verträglich. Ein Rückgang von ungebundenem Alpha-Synuklein konnte in ersten Tests nachgewiesen werden. Derzeit laufen unter anderem zwei große klinische Studien (PASADENA und SPARK), um die Anwendung solcher Antikörper zu erproben.
Parkinson verläuft bei jedem Patienten*innen individuell. In jedem Fall hat die Erkrankung einen sehr langen Vorlauf. Es können daher zehn bis 15 Jahre vergehen, ehe sich erste Symptome zeigen. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits ungefähr 80 % der Dopamin-produzierenden Zellen im Gehirn abgestorben.
Motorische Schwierigkeiten im Alltag wie zum Beispiel beim Ankleiden, Schuhe zubinden, Zähneputzen oder ein leichtes Zittern der Hände können erste Anzeichen sein.
Ein leichtes Nachziehen des Beines oder Fußes kommt ebenfalls vor, da oftmals die Störung zunächst auf eine Körperhälfte beschränkt ist. Später nehmen die Bewegungstörungen zu und können auch auf der anderen Körperhälfte auftreten. Es kommt zu Gang- und Gleichgewichtsstörungen. Weitere typische Beschwerden sind Schluckstörungen, eine leisere, monotonere Sprache und verarmte Mimik. Durch medikamentöse und andere Therapien lassen sich die Beschwerden mindern, jedoch lässt sich das Fortschreiten der Krankheit nicht vollständig stoppen. Aber: An Parkinson stirbt man nicht.
„Mit einer guten medizinischen Betreuung kann man davon ausgehen, dass die Lebenserwartung von Patient*innen mit der Parkinson-Krankheit nicht wesentlich niedriger ist als die der Allgemeinbevölkerung.“ Prof. Günter Höglinger, Deutsches Zenturm für Neurogenerative Erkrankungen (DZNE) und 1. Vorsitzender der DPG, 2019
Trotz des medizinischen Fortschritts ist Parkinson eine nicht heilbare Erkrankung. Die Symptome und Beschwerden lassen sich jedoch meist gut kontrollieren. Aufgrund der unterschiedlichen Symptome der Erkrankung ist eine komplexe Therapie notwendig. Den Grundstein bildet hierbei die medikamentöse Therapie. In manchen Fällen sind invasive Verfahren wie die Tiefen Hirnstimulation angezeigt.
Bei der Tiefen Hirnstimulation handelt es sich umgangsprachlich um einen „Hirnschrittmacher“, der die gestörte Hirnfunktion durch eine gezielte elektrische Stimulation unterstützt. Dazu feine Drähte in den tiefliegenden betroffenen Bereich des Gehirns eingeführt. Ein unter dem Schlüsselbein implantiertes Steuergerät gibt elektrische Impulse in das Gehirn ab. Dadurch werden die typischen Krankheitsbeschwerden wie das Zittern verringert. Ein solcher Eingriff kann auch wieder rückgängig gemacht werden, da das Hirngewebe nicht geschädigt wird. Es ist jedoch nicht jede*r Parkinson-Patient*in für die Tiefe Hirnstimulation geeignet.
Mit Levadopa, Dopaminantagonisten und Monoaminooxidase-B-Hemmer (MAO-B-Hemmer) existieren drei Medikamentengruppen, welche gegen Parkinson eingesetzt werden.
Levodopa (L-Dopa) wandelt sich im Gehirn zu Dopamin um und ersetzt das fehlende Dopamin in den Nervenzellen. Erstmals wurde Levodopa in den 1950er-Jahren vom späteren schwedischen Nobelpreisträger Arvid Carlsson zur Behandlung von Tieren mit Parkinson-artigen Symptomen eingesetzt. In den 1960er-Jahren wurde Levodopa auch an Menschen getestet. Es ist seit 1973 zur Behandlung von Parkinson zugelassen.
Dopaminagonisten regen die Bindungsstellen in den Nervenzellen an, die für die Aufnahme von Dopamin zuständig sind, wohingegen Monoaminooxidas-B-Hemmer (MAO-B-Hemmer) den Abbau von Dopamin im Gehirn blockieren.
Von der Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Parkinson und Bewegungsstörungen e.V. (DPG) am 11. April 2019 in München:
https://www.parkinson-aktuell.de/was-ist-parkinson
Artikel Sammlung: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/sw/Morbus%20Parkinson
Tiefe Hirnstimulation | Der Patient Eugen Schneider und seine OP
Im Portrait: Eugen Schneider
Eugen Schneider (42) kam 2002 aus Kasachstan nach Deutschland. Er lebt mit seiner Familie im Sauerland. Im Alter von 30 Jahren erhielt er nach zahlreichen Arztbesuchen die Diagnose Parkinson. Seine Krankheitsgeschichte ist für einen Parkinson-Patienten eher ungewöhnlich, da die ersten Symptome der Krankheit normalerweise erst sehr viel später im Leben auftreten.
Es begann für Eugen Schneider mit einem Zittern der linken Hand und einer Bewegungseinschränkung der linken Körperhälfte. Diese Einschränkungen nahmen im Laufe der Jahre zu und griffen auf die gesamten Bewegungsabläufe über, sobald die Wirkung der Medikamente nachließ.
Er musste über den Tag verteilt zu acht verschiedenen Zeiten vier verschiedene Präparate einnehmen.
Der Alltag war kaum zu meistern. Die Familie und die Arbeitskolleg*innen halfen ihm, die Diagnose zu verkraften.
Im Juni 2019 suchte Eugen Schneider die Parkinsonambulanz im Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus in Bochum auf. Nach Gesprächen mit den Ärzten und einigen Tests entschloss er sich für einen Eingriff mittels der Tiefen Hirnstimulation. Die Operation erfolgte im Oktober 2019.
An dieser Stelle möchten wir uns als Initiative Tierversuche verstehen bei Eugen Schneider bedanken, dass wir ihn bei der Operation der Tiefen Hirnstimulation begleiten durften und er über seine Krankheit und seinen Alltag mit Parkinson erzählt hat.
ME/CFS | Hintergrundinformationen
Was ist ME/CFS für eine Erkrankung?
Bei der Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) handelt es sich um eine neuroimmunologische Erkrankung. Das Gleichgewicht zwischen Immunsystem, Nervensystem und Hormonsystem ist gestört. Somit handelt es sich um eine sogenannte Multisystemerkrankung, die eine Diagnose erschwert. Daher ist eine genaue Zahl an Betroffenen auch schwer zu ermitteln. Geschätzt gibt es weltweit 17 Millionen Patient*innen, davon etwa 250.000 in Deutschland. Die Krankheit tritt insbesondere im Kindes- und Jugendalter (10-19) sowie zwischen 30 und 39 Jahren auf. Die Auswirkungen sind unterschiedlich stark. Mehr als 60 Prozent der Patient*innen sind arbeitsunfähig. Ein Viertel der Patient*innen ist nicht mehr in der Lage, das Haus zu verlassen. Viele sind bettlägerig und auf Pflege angewiesen.
Es existieren zwei Bezeichnungen für die Erkrankung: ME und CFS, welche mittlerweile häufig kombiniert verwendet werden. Nicht eindeutig klar ist, ob es sich um dieselbe Erkrankung handelt. Seit 1969 stuft die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ME/CFS als neurologische Erkrankung ein (ICD-10: G93.3). Die Hybridform ME/CFS hat sich bei Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen immer weiter durchgesetzt, da sich die gängigen klinischen Kriterien von ME und CFS überschneiden. Einige Ärzt*innen gehen sogar davon aus, dass es sich um dieselbe Krankheit handelt.
Die Bezeichnung Myalgische Enzephalomyelitis (ME) (Altgriechisch: Entzündung des Gehirns und Rückenmarks mit Muskelbeteiligung) wird hauptsächlich in Großbritannien und Skandinavien verwendet. Der britische Arzt Melvin Ramsay hat die Bezeichnung geprägt. 1955 stellte er bei einer Virusenzephalitis-Epidemie in London vor allem bei Ärzt*innen und Pfleger*innen schwere neurologische Symptome mit anhaltender Muskelschwäche fest. Ob tatsächlich Entzündungen im zentralen Nervensystem vorliegen, ist trotz Hinweisen in einigen Studien weiterhin unklar.
Die Bezeichnung Chronic Fatigue Syndrome (CFS) wurde 1988 von der US-Gesundheitsbehörde CDC (Centers of Disease Control and Prevention) nach dem Massenausbruch einer Krankheit mit ähnlicher Symptomatik in Nevada (USA) eingeführt. Kritiker*innen sehen in dem Begriff Chronic Fatigue Syndrome die Gefahr, die Erkrankung mit ihren komplexen Symptomen als einfache Müdigkeit oder Erschöpfung zu verharmlosen. Die Bezeichnung CFS wird vor allem in den USA und Kontinentaleuropa verwendet.
Die Betroffenen leiden oftmals an einer starken Erschöpfung. Sie fühlen sich ständig müde, erschöpft und ohne Antrieb, eine sogenannte schwere Fatigue. Darüber hinaus können Informationen im Gehirn und Nervensystem nicht richtig verarbeitet werden. Es treten Probleme mit dem autonomen Nervensystem auf, das zum Beispiel den Herzschlag, die Atmung oder den Stoffwechsel reguliert. Auch das Immunsystem wird beeinflusst. So sind Patient*innen unter anderem anfälliger für Infekte. Ein besonders auffälliges Symptom ist die so genannte Post-Exertional Malaise (PEM). Nach geringer körperlicher und geistiger Anstrengung verstärken sich hier die Symptome anhaltend.
In schweren Fällen kann eine PEM bereits durch das Umdrehen im Bett oder die Anwesenheit weiterer Personen im Raum ausgelöst werden. Deshalb müssen Betroffene häufig in abgedunkelten Räumen liegen und können sich nur flüsternd verständigen.
Symptome der Post-Exertional Malaise (PEM):
- grippale und neurokognitive Symptome
- Verschlechterung des allgemeinen Zustands
- ausgeprägte Muskel- und Gelenkschmerzen
- Muskelzuckungen und –krämpfe
- Schlafstörungen
- Kopfschmerzen
- Sehstörungen
Symptome des autonomen Nervensystems:
- Herzrasen
- Schwindel
- Benommenheit
- Blutdruckschwankungen
- Orthostatische Intoleranz (Der Kreislauf passt sich nicht an eine aufrechte Position an. Erst im Liegen tritt eine Besserung ein)
Immunologische Symptome:
- starkes Krankheitsgefühl
- Fiebrigkeit
- schmerzhafte und geschwollene Lymphknoten
- Halsschmerzen
- Atemwegsinfekte
- erhöhte Infektanfälligkeit
Neurokognitive Symptome:
- Konzentrationsstörungen
- Wortfindungsstörungen
- Merkstörungen
- Verlust der Fähigkeit zum Multitasking
- Vernebelung des Gehirns („Brain Fog“)
Neurologische Symptome:
- Hypersensibilität auf Licht, Geräusche und Gerüche
- Störung der Bewegungskoordination (Ataxien)
Chronische Fatigue:
Der Begriff steht in der Medizin für eine krankhafte Erschöpfung oder Schwäche, die über das normale Maß hinausgeht. Einige Ärzt*innen sehen in ihr ein Leitsymptom von ME/CFS, da die meisten Patient*innen an ihr leiden. Auch moderat Betroffene verzeichnen einen Leistungsabfall von mehr als 50 Prozent. Ruhephasen und Schlaf verschaffen bei ME/CFS wenig bis keine Linderung.
Die genaueren Ursachen der Multisystemerkrankung sind nicht bekannt. Als Auslöser tritt meist ein schwerer Infekt auf. Virale Infektionen wie das Epstein-Barr-Virus werden ebenfalls als Auslöser vermutet. Neuere Studien sehen einen Zusammenhang mit einer schweren Störung des Energiestoffwechsels und mit Autoimmunerkrankungen.
Den Forschungsstand vom ME/CFS darzustellen, fällt ähnlich schwer, wie eine Diagnose der Erkrankung zu treffen. Da es sich um eine Multisystemerkrankung mit unbekannter Ursache handelt, werden verschiedene Ansätze verfolgt. Allerdings wissen Forschung und Medizin immer noch sehr wenig über ME/CFS. In den 1980er-Jahren entstanden erste Studien zum Krankheitsbild. Bis heute gibt es für ME/CFS keine zugelassenen Medikamente, keine Standardtherapie und keine Heilung.. Eine Diagnose erfolgt bisher per Ausschlussverfahren anhand etablierter klinischer Kriterien.
Einige wenige Forschungsgruppen setzten sich intensiv mit ME/CFS auseinander.
Zu den bekannten Wissenschaftler*innen auf diesem Gebiet zählen u.a. Prof. Ron Davis (Stanford University, Kalifornien), Prof. Jose Montoya (ehemals Stanford University), Nancy Klimas (Southeastern University, Florida) sowie die norwegischen Krebsspezialisten Øystein Fluge und Olav Mella. An der Universität Würzburg forscht Dr. Bhupesh Prusty zur Rolle der Mitochondrien bei der Erkrankung. Prof. Carmen Scheibenbogen leitet das Charité Fatigue Centrum in Berlin, an dem unter ME/CFS erforscht wird.
Ron Davis leitet in Stanford das „Collaborative ME/CFS Research Center“, wo Wissenschaftler*innen der Bedeutung bestimmter Immunzellen, der sogenannten T-Zellen, bei ME/CFS-Patient*innen nachgehen. So stellte Prof. Jose Montoya eine Störung der Immunantwort bei ME/CFS-Patient*innen fest. Möglicherweise werden bei den Patient*innen die T-Zellen, die die Immunabwehr organisieren, fälschlicherweise durch körpereigene Proteine statt durch einen Eindringling alarmiert. Die Abwehrzellen (B-Zellen) bilden somit Antikörper gegen den eigenen Körper. Einen solchen Vorgang kennt man von einigen Autoimmunerkrankungen.
Die Forschenden um Davis fanden zudem heraus, dass bei einigen ME/CFS-Erkrankten die Mutation eines bestimmten Gens namens IDO2 für eine sogenannte „Stoffwechselfalle“ im Körper sorgen könnte.
Am Universitätsklinikum Haukeland in Bergen (Norwegen) erkannten Wissenschaftler*innen im Jahr 2008 einen Zusammenhang zwischen Autoimmunität und ME/CFS. Nach Einnahme des Krebsmedikaments Rituximab verschwand bei einem Patient*innen das Chronic Fatigue Syndrome. Eine Studie, von Øystein Fluge mit 151 krebsfreien CFS-Patient*innen konnte den Effekt jedoch nicht bestätigen.
In einer weiteren Studie untersuchten die Forschenden aus Norwegen den Einfluss des Enzyms PDH, das eine elementare Rolle beim Energiestoffwechsel der Mitochondrien spielt. Auch Dr. Bhupesh Prusty von der Universität Würzburg forscht zu diesem Thema. Er beobachtete im Blut von ME/CFS-Patient*innen eine Fragmentierung der Mitochondrien. Diese häufig als „Kraftwerke“ bezeichneten Zellbestandteile versorgen den Körper mit Energie. Verlieren die Mitochondrien ihre Struktur wie im Falle der untersuchten ME/CFS-Patient*innen, können sie dem Körper nicht mehr ausreichend Energie zur Verfügung stellen. Prusty vermutet, dass Viren wie etwa das Humane Herpesvirus 6 (HHV-6) Auslöser für die Zerstörung der Mitochondrien sein könnten.
ME/CFS-Patient*innen haben nicht nur auf Grund der Symptomatik ihrer Erkrankung, sondern auch wegen der mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz und Sensibilität für ME/CFS Probleme, ein „normales“ Leben zu führen. Die Erkrankten schotten sich häufig zunehmen von ihrem sozialen Umfeld ab. Die Schwierigkeiten, die Krankheit zu diagnostizieren, schlägt sich auch in der Anerkennung der Krankheit durch Behörden, Krankenkassen oder Rentenkassen wieder. In dem Missverständnis, es handele sich um eine psychosomatische Erkrankung, fordern die Versorgungsträger meist von den Betroffenen, in eine psychosomatische Rehabilitationsklinik zu gehen. Die dortigen Behandlungsansätze, wie die Verhaltenstherapie oder körperliche Reaktivierung, können die Krankheit jedoch sogar noch verschlimmern.
Im Gegensatz zur WHO und der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC, klassifiziert die deutsche Bundesregierung ME/CFS nicht als neurologische/organische Erkrankung, sondern geht weiterhin davon aus, dass eine psychosomatische Genesung möglich ist. Die Bundesregierung bezieht sich hierbei insbesondere auf die so genannte PACE-Studie, die von Patient*innenorganisationen jedoch kritisiert wird. Diese Studie besagt, dass Training und Kognitive Verhaltenstherapie zu einer Milderung der CFS-Symptome führe. Wissenschaftler*innen und Patient*innenvertreter kritisieren unter anderem, dass die Analysemethoden der Studie nachträglich den Daten angepasst worden seien und dass die empfohlene körperliche Betätigung den Zustand der Patient*innen verschlimmere.
Die Haltung der Bundesregierung stehe laut der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS e.V. im Widerspruch zur aktuellen Forschungslage mit Hinweisen auf ein gestörten Energiestoffwechsel, eine stark verminderte Belastung sowie Autoimmunität.
https://www.spektrum.de/news/ein-bluttest-fuer-das-chronische-erschoepfungssyndrom/1421296
https://www.pnas.org/content/116/21/10250
Links: ME-CFS
https://lost-voices-stiftung.org/aufklaerung/
https://www.mecfs.ch/politikum/#geschichte
https://www.millionsmissing.de/
https://www.yumpu.com/de/document/read/7763444/brief-an-die-zeit-dr-arnold-hilgers (Leserbrief über Arnold Hilgers an Giovanni di Lorenzo)
Interview: Einblick in die aktuelle Forschung
Die ME/CFS-Forschung gestaltet sich seit vielen Jahren schwierig. Nicht zuletzt, weil es sich um eine Multisystemerkrankung handelt, die die Wissenschaft in vielen Punkten noch vor ein Rätsel stellt. Im Gespräch mit „Tierversuche verstehen“ spricht die US-Forscherin Prof. Nancy Klimas von der Nova Southeastern University in Floridaim Rahmen des Projekts #meinwunderpunkt über ihre langjährige Forschungsarbeit, die Schwierigkeiten einer Diagnose, die zukünftige Bedeutung von Tiermodellen und die Parallelen zu einer Krankheit, die bei US-Soldaten festgestellt wurde, die Anfang der 1990er-Jahre am ersten Golfkrieg teilgenommen hatten.
Hier geht es zum Interview
ME/CFS | Der Patient Manuel Wonhas
Im Portrait: Manuel Wonhas
Manuel ist 26 Jahre alt und leidet an ME/CFS. Sich selbst bezeichnete er bis vor seiner Krankheit als „Typ, der immer Action braucht“. Manuel war ein Vollblut-Student, hat unglaublich gerne Sport getrieben und hat sich gerne ehrenamtlich engagiert. Sein Ziel war es, einmal zu promovieren. Seinen Bachelor hat er fast abgeschlossen, aber mit dem Auftreten der ersten Symptome konnte er sein Studium nicht weiterverfolgen.
In den Anfangszeiten seiner Erkrankung bekam er über einen Zeitraum von zwei Jahren ca. alle zwei Monate einen 10-tägigen Infekt. Manuel ging zum Arzt. Meist hieß es, er sei nicht ganz gesund, aber auch nicht wirklich krank – ein ernüchternder Zustand für den lebensfrohen 26-Jährigen.
Innerhalb weniger Monate verschlimmerte sich Manuel Zustand drastisch. Er brach nach einer Uni-Vorlesung vor Erschöpfung zusammen und war von den kleinsten Anstrengungen wochenlang ans Bett gefesselt. So ging es mehrere Monate. Ausruhen, eiserne Disziplin, nicht zu viel zu unternehmen, dann eine leichte Verbesserung und zaghafte Versuche, wieder ins Leben zu finden. Dann erneute Überanstrengung und Absturz. Von vorne beginnen.
Seit Oktober 2016 wohnt Manuel wieder zu Hause bei seinen Eltern und ist ein Pflegefall. Wenn er einen guten Tag hat, kann er eine halbe Stunde aktiv sein. Ansonsten ist der 26-jährige bettlägerig. Viele Stunden am Tag liegt er einfach nur da, dann sind die Symptome am geringsten. Mal liest er oder schaut eine Dokumentation, aber nicht länger als 30 Minuten am Stück.
Mit seiner Teilnahme an #meinwunderpunkt will Manuel das Leid aller ME/CFS-Patient*innen, die von der Gesellschaft, dem Gesundheitssystem und der Politik im Stich gelassen werden, thematisieren. Er suchte mit Beginn der ersten Symptome bis heute rund 50 Ärzte auf – keiner konnte ihm helfen.
Mittlerweile wurden bei Manuel einige Co-Erkrankungen, die mit ME/CFS zusammenhängen, offiziell diagnostiziert. Nur dank dieser offiziellen Diagnosen habe er heute einen Behindertenausweis, einen Pflegegrad und eine Berufsunfähigkeitsrente. Nur auf Basis von ME/CFS hätte er wohl keine Hilfe bekommen. Wie so viele andere Patient*innen.
Nachtrag: Die Dreharbeiten haben Manuel körperlich sehr angestrengt, er musste sich 14 Tage von den Anstrengungen erholen. An dieser Stelle möchten wir uns als Initiative Tierversuche verstehen bei Manuel bedanken, dass er über seine Krankheit und seinen Alltag mit ME/CFS berichtet hat.
Wollen auch Sie Ihre Geschichte erzählen?
Mit dem Projekt #meinwunderpunkt lässt die Initiative Tierversuche verstehen Menschen zu Wort kommen, die über ihre Krankheit sprechen und dabei auch über den Einsatz von Versuchstieren in der medizinischen Forschung nachdenken. Haben auch Sie Lust, Ihre Geschichte zu erzählen?
Schreiben Sie uns an: redaktion@tierversuche-verstehen.de
Hinweis: Die Initiative Tierversuche verstehen gibt grundsätzlich keine medizinischen oder therapeutischen Empfehlungen. Insbesondere die Texte des Projekts „Mein Wunder Punkt“ sind nicht als Empfehlungen zu lesen.