Die ME/CFS-Forschung gestaltet sich seit vielen Jahren schwierig. Nicht zuletzt, weil es sich um eine Multisystemerkrankung handelt, die die Wissenschaft in vielen Punkten noch vor ein Rätsel stellt. Im Gespräch mit „Tierversuche verstehen“ spricht die US-Forscherin Prof. Nancy Klimas von der Nova Southeastern University in Florida im Rahmen des Projekts #meinwunderpunkt über ihre langjährige Forschungsarbeit, die Schwierigkeiten einer Diagnose, die zukünftige Bedeutung von Tiermodellen und die Parallelen zu einer Krankheit, die bei US-Soldaten festgestellt wurde, die Anfang der 1990er-Jahre am ersten Golfkrieg teilgenommen hatten.
Weitere Informationen zum Projekt #meinwunderpunkt gibt es hier.
Wo liegt Ihr Forschungsschwerpunkt in Bezug auf ME/CFS?
Prof. Nancy Klimas: Wir untersuchen ME/CFS und das Golfkriegssyndrom. Die Krankheiten sind sehr ähnlich und die Patientengruppen sind daher gut vergleichbar. Wir bearbeiten diese Erkrankungen also parallel, obwohl für das Golfkriegssyndrom mehr Mittel zur Verfügung stehen.
Wie ist der aktuelle Stand der Forschung zu ME/CFS?
Klimas: Dies ist eine komplizierte Frage. Unsere Arbeit hat sich verändert. Wir haben mit Grundlagenforschung angefangen und nutzen nun computergestützte Ansätze. Diese Arbeiten wollen wir nun einsetzen, um so komplexe Modelle der Erkrankung zu entwickeln, dass wir damit virtuelle Tests machen können. Wir hoffen, damit Behandlungsversuche erheblich zu beschleunigen. Wir stützen uns auf unsere eigenen Studien und die veröffentlichten Arbeiten anderer Forschungsgruppen.
Warum ist es so schwer, die Krankheit zu verstehen und zu diagnostizieren?
Klimas: Ein Großteil der Verwirrung um unser Verständnis dieser Krankheit ist, dass sie so viele Systeme beeinflusst. Dazu zählen Bioenergetik, Immunsystem sowie das autonome Nervensystem und das Hormonsystem. Außerdem ist das Gehirn involviert. So wurden zum Beispiel Neuroinflammation und oxidativer Stress im Gehirn in Bildgebungsstudien dokumentiert. Um all dies zu einem einheitlichen, sinnvollen Bild dieser Multisystemkrankheit zusammenzufügen, war ein computergestützter biologischer Ansatz erforderlich. Dies hat es uns ermöglicht, alles Bekannte auf einmal in den Blick zu nehmen, anstatt ME/CFS mit dem Fokus auf nur jeweils ein System anzuschauen. Damit können wir Angriffspunkte identifizieren und mögliche Kombinationstherapien definieren.
Die vorherige Beschreibung greift jedoch viel zu kurz. Ich vertrete eine große Gruppe von Forschern, die über Fachkenntnisse in den Bereichen Genomik, Immunologie, autonome Funktion, Herz-Kreislauf-Forschung, Toxikologie, computergestützte Biologie und klinische Studien verfügen. Dies hat es uns ermöglicht, schneller von der Forschung über Krankheitsvorgänge und Funktionsstörungen zu ärztlichen Maßnahmen überzugehen. Für diesen letzten Schritt gestaltet sich allerdings die finanzielle Förderung enttäuschend.
Warum ist es schwierig, diese Forschung zu finanzieren?
Klimas: Wir haben ein ähnliches Programm für das Golfkriegssyndrom. Hier befinden wir uns nach einem erfolgreichen Tierversuch bereits in Phase 1 der klinischen Studien. Phase 2-Studie ist bereits finanziert. Der Unterschied zu ME/CFS ist also, dass wir erstens ein etabliertes Tiermodell haben und zweitens die Finanzierung für klinische Studien gesichert ist. Für die Forschung zum Golfkriegssyndrom gab es erhebliche Investitionen durch eine kongressgesteuerte Finanzierung an das US-Verteidigungsministerium und durch das US-Kriegsveteranenministerium. So erhielt unser Forschungskonsortium erhielt Gelder in Höhe von 8 Mio. US-Dollar, um die Phase-1- und Phase-2-Studie in diesem Feld vorantreiben zu können.
Welche Bedeutung haben Tierversuche für das Verständnis und die Erforschung von ME/CFS?
Klimas: Es kommt darauf an. Wie ich oben beschrieben habe, beschleunigte der Erfolg im Tiermodell den Zugang zu Finanzmitteln und wir konnten sehr zügig mit klinischen Studien starten. Tierversuche wären also hilfreich. Aber weil das Golfkriegssyndrom der ME/CFS ähnlich ist, haben uns unsere Erfolge dort also das Vertrauen in unser Modellierungssystem geben. So haben wir die ME/CFS-Modelle [auch ohne ein vorhandenes Tiermodell] weiterentwickelt. Wir haben private Spenden gesammelt, um ME/CFS-Phase-1-Studien zu finanzieren, in denen bereits vorhandene Arzneimittel mit bekannten Sicherheitsprofilen umgewidmet werden sollen. Wir bereiten gerade alles vor, um diese Studien noch in diesem Jahr einzuleiten.
Trotzdem haben wir auch Fördermittel beantragt und erhalten, um die Entwicklung von Tiermodellen anzustoßen. Einer der schwierigsten Aspekte ist, dass die meisten Tiermodelle mit männlichen Tieren durchgeführt werden, dies ist jedoch eine überwiegend weibliche Krankheit. Unsere Rechenmodelle unterscheiden sich bei Männern und Frauen sowie in der Zeit vor und nach den Wechseljahren – wir benötigen also mindestens drei Modelle. Wir haben jetzt private Mittel in kleinerem Umfang erhalten, um diese Anstrengungen zu unternehmen. Wir wollen damit erste Ergebnisse erzielen und auf dieser Grundlage dann eine größere, öffentlich geförderte Studie beantragen.
Gibt es eine maßgebliche Studie oder ein Forschungsteam, auf das die Gemeinschaft der ME/CFS-Patienten und Angehörigen ihre Hoffnung setzen?
Klimas: Ich denke, unsere Forschungsgruppe ist am nächsten an Studien dran, die evidenzbasiert sind und gleichzeitig versuchen das ganz große Ziel, also die Heilung der Krankheit, im Blick haben. Daher gehe ich davon aus, sobald wir mit unserer Studie soweit sind und das Institutional Review Board (IRB) als Ethikkommission zugestimmt hat, es als so spruchreif ist, wird sie ein wichtiger Sammelpunkt sein. Das Problem dabei ist das hohe Risiko dieser Art von Studie – nicht für den Patienten, sondern für die ME/CFS-Community. Als die Rituximab-Studie fehlschlug, fühlte es sich an, als würde die Luft aus dem Forschungsfeld entweichen. Translatorische Phase 1-Studien sind aber nur ein Anfang: Sie müssen in Phase 2 und 3 weitergeführt werden. Und das kostet sehr viel Geld.
Die geleistete Arbeit von Prof. Ron Davis ist aufgrund seiner engen persönlichen Beziehung innerhalb des Forschungsfeld ebenfalls sehr wichtig. Robert Naviaux verwendet wie wir computergestützte Ansätze und seine eigenen proteomischen Daten, um Angriffspunkte für Interventionen zu erarbeiten. Er verfolgt einige innovative Ideen. Ich hoffe, dass die Arbeit beider Forschungsgruppen bald in Phase-1-Studien münden wird.
ME/CFS ist in Deutschland nicht sehr bekannt – und das scheint auch weltweit zu gelten. Wie sind Sie auf diese Krankheit aufmerksam geworden?
Klimas: Ich bin durch meine Patienten im Jahr 1984 auf die Krankheit aufmerksam geworden. Ich bin eine klinische Immunologin, und sie haben mich aufgesucht und gefragt, ob ihre Symptome möglicherweise immunologisch sind. Meine Kollegin Dr. Mary Ann Fletcher und ich haben umfassende Laborstudien durchgeführt und die ersten immunologischen Studien veröffentlicht. Sobald wir eine Veröffentlichung hatten, haben mich die Patienten aufgesucht. Jetzt, mehr als 35 Jahre später bin ich immer noch dabei, aber mit viel mehr Leuten, die mir helfen können. Meine Mutter litt an Fibromyalgie und ich habe damals mit einem feministischen Auge beobachtet, wie sie von ihren Versorgern behandelt wurde. Das hat mich vermutlich auch beeinflusst