Die EU-Kommission hat in ihrer Antwort auf die Europäische Bürgerinitiative „Save Cruelty Free Cosmetics“ der Forderung, ein festes Datum für das Ende von Tierversuchen vorzuschreiben, eine klare Absage erteilt. Begründung der EU-Kommission: Aktuell sei keine Vorhersage darüber möglich, wann wissenschaftlich valide Methoden bestimmte Tierversuchsverfahren in der Forschung ersetzen können. Prof. Stefan Schlatt, Mitglied der Steuerungsgruppe der Initiative Tierversuche verstehen, wirft einen Blick nach vorn. Was bedeutet die Antwort der EU-Kommission für die Forschung?
Hat Sie die Antwort der EU-Kommission überrascht?
Schlatt: Der Inhalt war für mich absolut überraschend. In der Antwort stand etwas ganz anderes, als ich erwartet hatte. Ich musste die wichtigen Passagen wirklich dreimal lesen, um ihre Bedeutung zu erfassen.
EU-Kommision: Gesetzgeberische Vorgaben ungeeignet
Befindet sich die Forschung nun in einer neuen Situation?
Schlatt: Die Kommission gibt Hinweise, wie der Tierschutz in Zukunft geregelt oder gerade nicht geregelt werden soll. Die Kommission sieht im Bereich der Forschung gesetzgeberische Vorgaben als ungeeignetes Werkzeug an. Es geht eben nicht um gesetzliche Vorschriften und Verbote aus der Politik und der Legislative. Es geht um einen Abgleich von Rechtsgütern: der Freiheit der Forschung und dem Schutz von Versuchstieren sowie andererseits hochkomplexen Forschungsmethodiken und unkalkulierbaren Fortschritten.
Mehr persönliche Verantwortung im Umgang mit Tierversuchen
Ist der Kurs der EU-Kommission ein Freibrief für die Forschung, auf unbestimmte Zeit auf Tierversuche zu setzen?
Schlatt: Auf keinen Fall. Es geht um Güterabwägungen, die wir immer wieder treffen müssen. Die Grundfrage lautet: Sind Forschungsziel und -zweck bedeutend genug, um Tierleid zu rechtfertigen? Es geht immer um die Verantwortung des Einzelnen. Natürlich gibt es da unterschiedliche Perspektiven und Bewertungen, die Forschung muss sich weiter der Diskussion stellen. Ich würde mir wünschen, dass im Umgang mit Versuchstieren mehr Wert auf die persönliche Verantwortung gelegt würde, wie wir dies im Leitbild der Universität Münster betonen.
Wenn gesetzliche Verbote das falsche Instrument für einen Ausstieg aus Tierversuchen sind – wie kann dies denn gelingen?
Wir sind auf dem richtigen Weg
Schlatt: Mit der deutlichen Unterscheidung zwischen Regeln für Tierversuche zu regulatorischen Zwecken und der Forschung sind wir auf dem richtigen Weg. Auf diese Herangehensweise war bisher niemand gekommen. Sie ist aber sehr hilfreich. Denn auf Tierversuche zu regulatorischen Zwecken haben staatliche Stellen direkten Einfluss, zum Beispiel durch die zügige Prüfung und Anerkennung von Alternativmethoden. Oder theoretisch durch einen Verzicht oder eine Veränderung der Prüfung von Medikamenten und Chemikalien. Der Weg, den die Kommission jetzt aufzeigt, ist insofern sehr modern und wird durchgängig begrüßt, auch in der Pharma-Branche.
Was bedeutet das konkret für Deutschland? Welche Besonderheiten gibt es hier?
Schlatt: In Deutschland sind wir ja bei Genehmigungen mit einem aufwändigen System unterwegs. Es gibt auf Bundesebene das Tierschutzgesetz, aber die Genehmigung von Tierversuchen ist Ländersache. Diese geben die Durchführung weiter an Landesämter oder Regierungspräsidien. Die Prozesse der Genehmigungen sind extrem unterschiedlich. Dabei war es bei der Gründung der EU doch ein Ziel, vielerlei Regelungen zu harmonisieren. Das scheint wohl oft in Vergessenheit geraten zu sein. Wir müssen einsehen, dass wir es hier mit jeweils hochkomplexen Einzelfallentscheidungen zu tun haben, also nicht alles pauschal regeln können und die Verantwortung nicht komplett dem Gesetzgeber zuschieben können. Die Regulierungstiefe noch weiter zu erhöhen, wäre also der falsche Weg. Erfolgversprechender finde ich, wie es etwa in den USA oder auch dem EU-Land Belgien läuft. Dort gibt es an jeder Forschungseinrichtung ein unabhängiges Gremium, in dem neu geplante Versuche direkt vor Ort umfassend und kenntnisreich – und durchaus auch kritisch – diskutiert und dann genehmigt oder abgelehnt werden. Ich habe das in vielen Fällen in meiner Zeit in Pittsburgh als sehr gewinnbringend erlebt. So bleibt die Verantwortung dort, wo sie hingehört.
Welche Rolle spielt das 3R-Prinzip auf dem künftigen Weg, mit Tierversuchen umzugehen?
Schlatt: Das 3R-Prinzip ist eine Idee aus den 50er und 60er Jahren. Ich halte die Diskussion darüber in Teilen für überholt. In Deutschland und Europa sprechen wir doch heute fast ausschließlich nur noch über ein „R“, nämlich das Replacement, also das Ersetzen von Tierversuchen durch andere Methoden. Zumindest zeigt sich das an den vielen Forschungspreisen, die in den letzten Jahren fast ausschließlich für Replacement-Projekte vergeben wurden. Teilweise wird auch noch über Reduction gesprochen – also die Frage, wie man die Zahl der Versuchstiere vermindern kann. Aber Refinement kommt kaum zur Sprache – dabei geht es da um ganz konkreten Tierschutz! Aus meiner Sicht müsste die Diskussion aber noch viel breiter aufgezogen werden und sich um weitere Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung drehen: Tierrechte, Tier-Ethik, Tierwohl, Tierschutz – also 4T, wenn man so will.