Wenn es um das Wohlergehen in der Haltung von Tieren geht, fallen häufig Begriffe wie „artgerecht“. Doch bei dieser Bezeichnung rät der Verhaltensbiologe Prof. Dr. Norbert Sachser von der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster für Tiere in Menschenhand zur Vorsicht. Im Interview verrät er außerdem, wie man von Tieren erfährt, wie es ihnen geht.
Herr Sachser, was ist der Unterschied zwischen artgerecht und tiergerecht?
Norbert Sachser: Leider geht das in der öffentlichen Darstellung – aber manchmal auch in Fachkreisen – durcheinander. Dann werden artgerecht und tiergerecht unglücklicherweise sogar als Synonyme benutzt und beliebig ausgetauscht. Bei diesen beiden Begriffen sollten wir gerade in der Wissenschaft deutlich differenzieren.
Wie definieren Sie denn artgerecht?
Sachser: Artgerecht ist alles Verhalten, das durch das Wirken der natürlichen Selektion im natürlichen Lebensraum der Tiere entstanden ist. Dazu gehören beispielsweise der Nahrungserwerb und die Nahrungsaufnahme, der arttypische Schlaf-Wach-Rhythmus, die Körperpflege, das Werbe- und Sexualverhalten oder die Jungenfürsorge. Durch die soziobiologische Revolution haben wir allerdings gelernt, dass Tiere sich nicht primär zum Wohle ihrer Art verhalten. Vielmehr ist das Ziel allen tierlichen Verhaltens, die eigenen Gene mit maximaler Effizienz in die nächste Generation weiterzugeben. Wenn es hierfür nützlich ist, nett gegenüber anderen Artgenossen zu sein und ihnen zu helfen, so tun Tiere das. Wenn es hierfür aber vorteilhafter ist, sich egoistisch zu verhalten, zu täuschen, zu kämpfen und Artgenossen zu töten, so werden sie sich entsprechend verhalten.
Können Sie dies durch ein Beispiel erläutern?
Sachser: Wenn in einem Löwenrudel der Harem von neuen Männchen übernommen wird, dann beißen sie häufig die noch nicht entwöhnten Jungtiere ihrer Vorgänger tot. Die Männchen verhalten sich so, um ihren Fortpflanzungserfolg zu maximieren. Denn solange die Weibchen säugen, findet bei ihnen kein Eisprung statt. Sterben die Jungtiere, sind die Löwinnen sehr schnell wieder läufig. Eine solche Form der Kindestötung ist mittlerweile bei vielen Tierarten in ihrem natürlichen Lebensraum beschrieben worden und stellt zweifellos ein artgemäßes Verhalten dar. Tiere sind also keineswegs die besseren Menschen und es sollten nicht nur diejenigen Aspekte ihres Verhaltens als artgerecht bezeichnen werden, die unseren moralischen Maßstäben entsprechen.
Macht der Begriff „artgerecht“ für Tiere in Gefangenschaft denn überhaupt Sinn?
Sachser: Bei Tieren in Menschenhand handelt es sich entweder um Wildtiere in Zoos oder um Haustiere wie Hund und Katze. Hinzu kommen landwirtschaftliche Nutztiere sowie Versuchstiere. Es ist meines Erachtens wenig sinnvoll, auf diese Gruppe den Begriff „artgerecht“ anzuwenden. Da sollten wir besser von „tiergerecht“ sprechen. Diese Bezeichnung bezieht sich auf das einzelne Individuum. Ähnlich ausgerichtet ist auch das Deutsche Tierschutzgesetz. Tiergerecht ist all das, was dazu beiträgt, dass es dem Tier in menschlicher Obhut gut geht.
Wie lassen sich Erkenntnisse über das Wohlergehen der Tiere gewinnen?
Sachser: Zunächst aus der Untersuchung ihres Gesundheitszustandes und der Beobachtung ihres Verhaltens. Die Tiere sollten selbstverständlich gesund sein. Sie sollten fressen und trinken, einen regelmäßigen Tagesrhythmus aufweisen, Körperpflege betreiben und mit Artgenossen friedlich interagieren. Wenn diese Kriterien nicht erfüllt sind, stimmt etwas nicht. Umgekehrt geht es Tieren aber nicht automatisch gut, wenn die oben genannten Kriterien zutreffen.
Wie hat sich die Forschung dazu entwickelt?
Sachser: Vor wenigen Jahrzehnten hat man noch geglaubt, Tieren gehe es gut, solange sie sich fortpflanzen. Fest steht jedoch: Unter bestimmten Haltungsbedingungen können Tiere Verhaltensstörungen entwickeln, beispielsweise Bewegungsstereotypien. Vielfach hat sich jedoch gezeigt, dass veränderte Umweltbedingungen dem entgegenwirken können. Reichert man beispielsweise die Gehege strukturell an, – bringt also ein „environmental enrichment“ ein -, oder setzt bei bestimmten Tierarten einen passenden Sozialpartner hinzu, dann verschwinden diese Verhaltensstörungen. Ein weiteres Beispiel: Unter tiergerechten Haltungsbedingungen spielt jedes Säugetierkind. Zeigen Kinder jedoch kein Spielverhalten, stimmt aller Wahrscheinlichkeit nach etwas nicht.
Wir können also das Verhalten beobachten, um zu untersuchen, wie es um das Wohlergehen eines Tiers bestellt ist. Gibt es auch physiologische Parameter? Was bringt es zum Beispiel, die Hormone zu messen?
Sachser: Die Analyse von bestimmten Hormonen ist sicherlich hilfreich. In erster Linie handelt es sich um Stresshormone, die aus dem Blut oder Speichel, aber auch nicht-invasiv aus dem Kot bestimmt werden können. Sie sind ein wichtiger Bestandteil jeder Wohlergehensdiagnostik. Übrigens unterscheiden sich die hormonellen Stressreaktionen beim Menschen kaum von denjenigen der Maus, des Meerschweinchens oder des Nashorns.
Der Cortisolspiegel steigt bei allen Belastungen an, wie Krankheit, Hitze und Kälte oder nach einer Niederlage in einem Kampf. Allerdings kann es auch bei extrem positiven Erlebnissen zu einer deutlichen Erhöhung kommen. Den höchsten Wert weisen Ratten zum Beispiel kurz nach der Kopulation auf. Für das Tier bedeutet das ja alles andere als Stress, der vermieden werden sollte. Zusätzlich zu den Hinweisen aus der Hormonanalyse müssen wir deshalb ermitteln: Befindet sich das Tier in einer belohnenden Situation oder würde es sie lieber vermeiden? Für die Wohlergehensdiagnostik brauchen wir also beides: das Verhalten und die Physiologie.
Gibt es weitere Methoden, die Aussagen über das Wohlergehen der Tiere erlauben?
Sachser: Man kann Tiere in sogenannten Präferenztests nach ihren Vorlieben „fragen“. Wenn beispielsweise ein Meerschweinchen die Wahl hat, ob es lieber allein leben möchte, oder zusammen mit einem anderen Meerschweinchen oder mit einem Zwergkaninchen – was früher häufig von Tierhandlungen empfohlen wurde – dann entscheidet es sich eindeutig dafür, mit einem anderen Artgenossen zusammen zu sein. Hausmeerschweinchen, die von den in Gruppen lebenden Wildmeerschweinchen abstammen, bevorzugen stets das Zusammenleben mit einem Sozialpartner. Goldhamster dagegen leben in der freien Natur allein und dürften es auch in menschlicher Obhut vorziehen, allein und nicht gemeinsam mit einem Artgenossen gehalten zu werden. Die Haltung von mehreren erwachsenen Goldhamstern im selben Käfig kann schnell zu schweren Verletzungen bis hin zum Tod führen.
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Zudem kann man Tiere auch direkt „befragen“, wie es ihnen geht. So wurde eine Methode auf Tiere übertragen, die die gleichen Kriterien verwendet, anhand derer Wirtschaftswissenschaftler beim Menschen entscheiden, ob etwas Luxus oder absolut notwendig ist. Um das zu ermitteln, kann man untersuchen, wieviel Arbeit Tiere bereit sind, für verschiedene Haltungsfaktoren oder Annehmlichkeiten zu leisten. Bei einer Untersuchung hatten Nerze beispielsweise die Wahl zwischen verschiedenen Gehegen: einem größeren Gehege ohne Wasser, einem mit Wasser zum Baden, einem mit Bällen zum Spielen oder einem mit einer erhöhten Sitzgelegenheit. Der Zugang zu den einzelnen Optionen war an Gewichte gebunden. Sie mussten also richtig Kraft aufwenden, um die Tore zu öffnen. Dabei zeigte sich: Nerze verrichten die mit Abstand meiste Arbeit, um Zugang zu einem Gehege mit Wasser zu erhalten. Dafür wenden sie fast genau so viel Kraft auf, wie für den Zugang zu Futter. Dies zeigt: Wasser ist kein Luxus für die Tiere, sondern eine Notwendigkeit. Weitere Untersuchungen an anderen Tieren ergaben beispielsweise: Hühner investieren sehr viel Kraft, um an Nistmaterial zu gelangen.
Welche Methoden zur Wohlergehensdiagnostik sind künftig denkbar?
Sachser: In den 1970er und 1980er Jahren waren die Verhaltensökologie und Soziobiologie die dominierenden Themen der Verhaltensforschung. Anschließend lag ein Schwerpunkt auf den kognitiven Leistungen der Tiere. In den letzten Jahren wurden die Emotionen der Tiere zu einem wesentlichen Thema. So sind momentan viele Arbeitsgruppen weltweit dabei, biologische Methoden zu entwickeln, die verlässliche Aussagen über die affektiven Zustände bei Tieren erlauben. Diese Forschungsrichtung hat bereits wesentliche neue Erkenntnisse erbracht und wird auch zukünftig zur Beurteilung und Entwicklung tiergerechter Haltungssysteme von Tieren in Menschenhand beitragen. Besonders vielversprechend sind dabei Ansätze, die von einer wechselseitigen Beeinflussung von Emotion und Kognition ausgehen und aufgrund kognitiver Leistungen auf Emotionen zurück schließen.
Zu diesem Thema finden Sie weitere Informationen in dem Interview „Zufriedene Tiere ermöglichen eine gute Wissenschaft“ mit der Verhaltensbiologin Helene Richter von der WWU Münster.
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