In Europa soll es keinen wissenschaftsfernen Ausstiegsplan mit einem starren Zieldatum für das Ende von Tierversuchen geben. Diese Position vertritt die EU-Kommission in ihrer Antwort auf die Europäische Bürgerinitiative „Save Cruelty Free Cosmetics“. Dabei kam die Kommission den Initiatoren bei deren Kernforderungen unterschiedlich weit entgegen. Die Kommission hält damit weiter an der geltenden Tierversuchs-Richtlinie 2010/63 und ihrer bisherigen Position fest und hält eine Gesetzesinitiative nicht für den richtigen Weg zum Ausstieg aus biomedizinischen Tierversuchen.
Um Tests zur Sicherheitsbewertung von Chemikalien schneller auf tierversuchsfreie Methoden umzustellen, versprach sie, gemeinsam mit der EU-Chemikalienbehörde ECHA und anderen relevanten Einrichtungen einen geforderten Fahrplan vorzulegen, der mittelfristig zu einem Ende von Tierversuchen für regulatorische Zwecke führen soll. Für die Forschung, etwa in Biologie und Medizin, wird es aber keine festen Meilensteine oder Deadlines für ein Ende aller Tierversuche geben, wie die Kommission auch in ihrer Pressemitteilung betont.
Forschende und Wissenschaftsorganisationen in Europa hatten im Vorfeld große Sorgen wegen der Konsequenzen einer Annahme der weitreichenden Forderungen der Bürgerinitiative geäußert. Nun hat die EU-Kommission in einer ausführlichen Stellungnahme auf diese Forderungen geantwortet. Die Antwort geht auf die drei Forderungen der Petition jeweils einzeln ein:
Forderung 1 – Verschärfung des Verbots von Tierversuchen für Kosmetik
Im Bereich Kosmetik hatten die Initiator*innen der Bürgerinitiative die Auflösung eines schon lange schwelenden Konflikts angemahnt. Die Kommission weist darauf hin, dass das Verbot von Tierversuchen für Kosmetika und deren Inhaltsstoffe bereits vollumfänglich umgesetzt wird. „Die Kommission hat derzeit nicht die Absicht, legislative Änderungen der Kosmetikverordnung oder der REACH-Verordnung in Bezug auf die Prüfung von Kosmetikbestandteilen vorzuschlagen. Die Schnittstelle zwischen den beiden Verordnungen wird derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof in zwei gegen die ECHA angestrengten Verfahren geprüft. Die Kommission wird die Urteile analysieren, sobald sie vorliegen, und sie bei der Entscheidung über die Notwendigkeit von Gesetzesänderungen berücksichtigen“, so die Kommission in ihrer Antwort (Übersetzung durch die Redaktion).
Weiterhin betont die Kommission, dass das Verbot von Tierversuchen für kosmetische Inhaltsstoffe und das Verkaufsverbot von Kosmetika, die im Tierversuch getestet wurden, vollständig umgesetzt worden sei.
Forderung 2 – Roadmap zur Abschaffung von Tierversuchen bei der Chemikalienzulassung
Die Petition hatte gefordert, Tierversuche ganz aus der Sicherheitsbewertung von Chemikalien durch die Europäische Chemikalien Agentur ECHA zu streichen. Die Kommission stellt in ihrer Antwort nun eine „Roadmap“ in Aussicht, um schneller üblicherweise geforderte Tests an Tieren durch alternative Verfahren (sog. new approach methodologies, kurz NAMs) zu ersetzen und mittelfristig komplett umzustellen. Dazu soll die Entwicklung, Validierung und Implementierung von tierversuchsfreien Methoden sowie deren Aufnahme in die Regelwerke vereinfacht werden. Um diese Roadmap zu erstellen, wird es noch in der zweiten Jahreshälfte 2023 einen Workshop mit den Mitgliedsstaaten und allen relevanten Stakeholdern geben, sowie einen weiteren Workshop 2024, um den Fortschritt dieses Aktionsplans zu präsentieren. Außerdem sollen die Zusammenarbeit zwischen allen Behörden, Experten-Komitees und Stakeholdern weiter gestärkt werden.
Diese Aspekte der Bürgerinitiative beziehen sich vor allem auf Tests zur Chemikaliensicherheit. Sie lassen die Forschung in lebenswissenschaftlichen Disziplinen wie etwa Biologie, Medizin, Agrarwissenschaften oder Tiermedizin beinahe unberührt.
Forderung 3 – Ausstiegplan aus den Tierversuchen
In der dritten Forderung der Petition wurde die EU-Kommission aufgefordert, einen Ausstiegsplan für alle Tierversuche zu entwickeln, mit konkreten Enddaten und Meilensteinen. Dieser Forderung hat die Kommission nun klar widersprochen. Anders als bei den sehr standardisierten Chemikalientests könne man etwa in der vielgestaltigen Grundlagenforschung nicht vorhersagen, wann Alternativmethoden verfügbar sein werden und welche Versuche sich wie ersetzen lassen. Dazu müsse der wissenschaftliche Fortschritt abgewartet werden. Ein starrer Fahrplan mit konkreten Daten und Meilensteinen sei daher unmöglich.
Wörtlich heißt es in der Stellungnahem der EU-Kommission (Übersetzung durch die Redaktion):
„Die Festlegung von Reduktionszielen scheint in Politikbereichen sinnvoll zu sein, in denen die Möglichkeiten zur Umsetzung eines politischen Ziels klar umrissen werden können. Dies ist jedoch in der Forschung nicht der Fall, wo wissenschaftlicher Fortschritt und Innovation unvorhersehbar sind und von den besten verfügbaren Methoden, Technologien und Kenntnissen abhängen. Darüber hinaus wird die Festlegung eines universellen Reduktionsziels der Vielfalt des Forschungsbedarfs möglicherweise nicht gerecht. Bei der Entwicklung von Alternativen wurden beträchtliche Fortschritte erzielt, doch bleiben Tiermodelle derzeit unverzichtbar, um einige komplexere biologische oder physiologische Prozesse zu verstehen, die mit Gesundheit, Krankheit und biologischer Vielfalt zu tun haben. Die Kommission weist erneut darauf hin, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar ist, wann wissenschaftlich fundierte Methoden, die bestimmte Tierversuche in der Forschung ersetzen können, verfügbar sein werden. Folglich erscheint die Festlegung von Reduktionszielen unrealistisch, und diese müssten ständig angepasst werden.“
Vielmehr wolle man bisherige Anstrengungen im Sinne der geltenden Richtlinie 2010/63/EU verstärken. Diese sieht zum Beispiel vor, mithilfe des 3R-Prinzips Tierversuche nur dort zu erlauben, wo es noch keine Alternativen gibt, die Zahl der Tiere durch gute Versuchsplanung zu reduzieren und die Versuche im Sinne der Tiere immer weiter zu verbessen, damit diese zu weniger Belastung führen und gleichzeitig mehr und bessere Erkenntnisse liefern. Auch in der Ausbildung von Wissenschaftler*innen werde man noch mehr dafür tun, das breite Methoden-Spektrum der Lebenswissenschaften besser zu vermitteln und mehr Tierschutzpraxis in die Ausbildung bringen. Ebenso werde man bisherige Förderprogramme für die Entwicklung neuer Methoden und NAMs weiterführen und ausbauen.
EU-Kommission bleibt bei ihrer Einschätzung
Die aktuelle Argumentation ähnelt damit der Antwort der Kommission, die sie schon Anfang 2022 nach einer Forderung des EU-Parlaments formuliert hatte. Das Parlament hatte in einer Resolution gefordert den Übergang zu tierversuchsfreier Forschung zu beschleunigen. Die Kommission verwies auch damals schon auf die geltende EU-Richtlinie 2010/63, die bereits einen Ersatz von Tierversuchen beinhaltet, sobald dies wissenschaftlich möglich sei. In ihrer jetzigen Antwort fasst die Kommission abschließend zusammen, dass kurz- und mittelfristig Tierversuche sowohl in der Forschung zur Gesundheit des Menschen und der Umwelt sowie auch in der Risikoanalyse für Chemikalien notwendig und wichtig bleiben. Wo es möglich ist werden die Anstrengungen, Tierversuche zu reduzieren, aber intensiviert.
Forschende und Wissenschaftsorganisationen reagierten in ersten Einschätzungen erleichtert auf die Stellungnahme der Kommission. Die European Animal Research Association (EARA), die sich für einen faktenbasierten Diskurs in Europa und gegen die voreilige Abschaffung von Tierversuchen einsetzt, begrüßt die Reaktion der EU-Kommission und die Ablehnung eines konkreten Ausstiegsplans aus Tierversuchen in der biomedizinischen Forschung.
Die Initiative Tierversuche verstehen sieht in der Stellungnahme der EU-Kommission einen faktenbasierten und verantwortungsbewussten Umgang mit Tierversuchen. „Die EU hat sich intensiv mit den Forderungen der Bürgerinitiative auseinandergesetzt. Sie stellt fest, dass Tierversuche in der Grundlagenforschung auf absehbare Zeit nicht ersetzbar sind. Ein fester Termin für den Ausstieg aus Tierversuchen in Europa hätte unabsehbare Folgen für die Gewinnung von grundlegenden Erkenntnissen gehabt. Er würde den Wissenschafts-Standort Europa zudem nachhaltig schwächen. Dort wo es sinnvoll und möglich ist, wird nach zeitnahen Lösungen gesucht, aber dort wo es noch keine Alternativen gibt, hat die EU klare Position bezogen“, sagte die stellvertretende Sprecherin der Initiative Tierversuche verstehen, Prof. Olivia Masseck. Sie hatte sich bereits in einem Gast-Kommentar kritisch zu den Forderungen der Bürgerinitiative geäußert.