Richard David Precht

Prechts „Tiere denken“ enttäuscht

Der Philosoph Richard David Precht holt in seinem Buch „Tiere denken“ zu einem Rundumschlag aus: In seinem Werk wird nahezu jedes nur denkbare Mensch-Tierverhältnis beleuchtet – häufig im historischen Kontext. Auch das Thema Tierversuche untersucht Precht in einem 20-seitigen Kapitel. Es strotzt vor Fehlern und offenbart die fachliche Unkenntnis des Autors.

 

Schon die Beschreibung der Eingangsszene im Kapitel „Das Tier als Dummy“ lässt den Schluss zu, dass Precht sich nicht ausreichend mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Seine Ausführungen zu Sinn und Nutzen von Tierversuchen in der biomedizinischen Forschung bestehen aus zahlreichen falschen, unbelegten Behauptungen, Halbwahrheiten sowie unbegründeten Vorwürfen gegen alle an Tierversuchen Beteiligten. Die unzähligen medizinischen Errungenschaften der vergangenen hundert Jahre, die mit Hilfe von Tierversuchen erzielt wurden, sind Precht dagegen nicht eine Silbe wert, werden als das unnötige Suchen nach neuen Hustensäften und Schnupfensprays dargestellt.

 

10 irreführende Thesen aus Prechts „Tiere denken“

 

1. Quälerei

 

Precht behauptet wortreich, Tiere würden im Dienst der Wissenschaft grausamste Prozeduren über sich ergehen lassen müssen. Diese kämen einer Folter gleich.

 

Richtig ist, dass Tierversuche grundsätzlich mit Schmerzen, Leiden oder Schäden bei den Versuchstieren verbunden sein können. Diese sind jedoch gemäß des 3R-Prinzips in jedem Versuch auf das unerlässliche Minimum zu reduzieren. Schmerzhafte Eingriffe, etwa Operationen, werden wie bei Menschen auch bei Versuchstieren unter Narkose durchgeführt. Für seine Behauptung führt Precht keinerlei Belege an, obwohl es dazu öffentlich einsehbare Informationen gibt: Die offizielle Datenbank AnimalTestInfo des Bundesinstituts für Risikobewertung enthält u.a. Angaben zur Tierart, der Anzahl der Versuchstiere und eine Beschreibung des Versuchs, die für Laien verständlich sein soll. Dort ist nachzulesen, was mit den Tieren in genehmigten Versuchen passiert und wozu diese Versuche gemacht werden.

 

2. Falsche Zahlen

 

Precht behauptet, dass sich die Anzahl der Versuche an Mäusen verringert, die an Hunden erhöht hätte.

Richtig ist, dass die Anzahl an Mäusen in Tierversuchen über die letzten Jahre gestiegen ist. Der Anteil der anderen Tierarten ist mit leichten jährlichen Schwankungen weitgehend stabil. Die Zahl der Hunde, Katzen, Affen und Nutztiere blieb seit dem Jahr 2000 auf einem konstanten niedrigen Niveau: Zusammen machen sie unter 2 Prozent aus. Lediglich Zebrafische werden immer häufiger genutzt, da sie in der Entwicklungsbiologie eine immer größere Rolle spielen.

 

Außerdem behauptet Precht, seine Zahlen zu Versuchstieren stammen aus dem Jahr 2015 –zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Tiere denken“ lagen diese überhaupt noch nicht vor.

 

3. Legitimation von Tierversuchen

 

Precht behauptet, Tierversuche müssten nicht mit einem Nutzen („Segen“) für die Menschheit legitimiert werden.

 

Richtig ist, dass Tierversuche nur mit Nutzen für uns Menschen legitimiert werden können (siehe auch: Ethik bei Tierversuchen). Das Tierschutzgesetz erlaubt Tierversuche nur zu scharf umgrenzten Zwecken, die dem Menschen oder Tieren in menschlicher Obhut nützen. Dieser Nutzen kann auch darin bestehen, dass neue, grundlegende Erkenntnisse über biologische Prozesse gewonnen werden, die möglicherweise erst nach vielen Jahren eine konkrete Anwendung finden.

 

4. Schmerzforschung

 

Precht behauptet, Schmerzforschung an narkotisierten Tieren wäre Unsinn.

 

Richtig ist, dass viele physiologische Signalprozesse in Reaktion auf einen Schmerzreiz sich auf der molekularen Ebene untersuchen lassen, ohne Versuchstieren starke oder chronische Schmerzen zufügen zu müssen. Manche Versuche in der Schmerzforschung kommen sogar ganz ohne Tiere aus. Es kommt immer auf die konkrete Fragestellung an und welche Parameter erhoben werden müssen, um diese zu beantworten. Wegen ihrer jeweiligen Stärken und Schwächen braucht moderne biomedizinische Forschung immer einen Mix von Methoden und Modellen, um wirklich erfolgreich zu sein. Aktuelle Schmerzforschung findet zum Beispiel mit Hilfe von Nacktmullen statt, die überraschenderweise äußerst unempfindlich auf verschiedene Schmerzreize reagieren.

 

5. Beispiel AIDS-Forschung

 

Precht behauptet, dass in der Aidsforschung Experimente mit Tieren kaum eine Rolle gespielt hätten.

 

Richtig ist das Gegenteil: Die HIV-Forschung konnte und kann auf Versuche an Tieren nicht verzichten. Das bestätigen selbst Menschen, die sich in der AIDS-Hilfe engagieren. Aus ihrer Sicht besteht eine dauerhafte Notwendigkeit für die Entwicklung weiterer Wirksubstanzen.

 

6. Übertragbarkeit von Tierversuchen

 

Precht behauptet, dass etwa 80 % der Ergebnisse aus Tierversuchen in Menschen nicht bestätigt werden. Ein gutes Beispiel dafür sei der Contergan-Skandal aus dem Jahr 1961.

 

Richtig ist, dass diese Zahlen und Beispiele oft von Tierversuchsgegnern angeführt werden. Allerdings sind weder die Zahlen noch das Contergan-Beispiel als schlagendes Argument für eine mangelhafte Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Tierversuchen auf den Menschen. Die Argumentation wurde schon vielfach widerlegt: Die Zahlen beziehen sich darauf, wie viele der Testsubstanzen in einer Medikamentenentwicklung in Studien an Menschen scheitern, nachdem sie die präklinischen Studien (auch an Tieren) erfolgreich durchlaufen haben. Zum einen beruhen viele der präklinischen Tests jedoch gar nicht auf Tierversuchen, sondern auf Alternativmethoden (wie Computermodelle, Zellkulturen, automatische Screenings, etc.). Zum anderen fallen die meisten der letztendlich scheiternden Substanzen erst nach den ersten Test an Menschen (der sog. Phase 1) auf – aber niemand käme auf die Idee, Studien an Menschen als ungeeignete Testmethode zu bezeichnen.

 

Die haltbare Aussage zu Medikamententest ist daher, dass fast alle Testsubstanzen scheitern. Durch den Contergan-Skandal wurde klar, welche Schäden in der Schwangerschaft ausgelöst werden können. Damals wurden solche möglichen Schäden noch nicht standardmäßig untersucht. In der Folge wurden die präklinischen Tierversuche erfolgreich ausgeweitet, um solche Schäden auszuschließen. Diese und weitere typische Argumente von Tierversuchsgegnern zusammen mit Stellungnahmen der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI) finden sich hier.

 

7. Erfolge in der Medizin

 

Precht behauptet, dass ein Großteil der Erfolge in der Medizin nicht auf Tierversuchen beruht. Insbesondere sei die höhere Lebenserwartung auf einen Rückgang bei den Infektionskrankheiten, der Hygiene, dem Wohlstand und den Fortschritten in der tierversuchsfreien Chirurgie zu verdanken.

 

Richtig ist, dass zur Bekämpfung zahlreicher Infektionskrankheiten Tierversuche eine zentrale Rolle gespielt haben. Auch die Erfolge der Chirurgie bauen häufig auf der Erprobung neuer Verfahren an Tieren auf.

 

8. Gesetzlich vorgeschriebene Versuche

 

Precht behauptet, dass mehr als 85 % aller Tierversuche in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben seien und zudem die meisten Versuche ohne Kontrolle durch Ethikkommissionen erfolgen.

 

Richtig ist jedoch, dass 23 % der Versuchstiere für gesetzlich vorgeschriebene Tierversuche, u.a. zur Sicherheitsprüfung von Chemikalien oder neu entwickelten Medikamenten, eingesetzt werden. Hinzu kommen lediglich wenige Prozentpunkte für Tierversuche, die anzeigepflichtig sind.

 

Alle genehmigungspflichtigen Tierversuche in der Forschung werden von einer Ethikkommission begutachtet. Das Töten eines Tieres zu wissenschaftlichen Zwecken ohne vorhergehende Versuche zählt nicht als Tierversuch und ist daher nicht genehmigungspflichtig, allerdings muss auch dies gemeldet (d.h. angezeigt) werden.

 

9. Notwendigkeit neuer Medikamente

 

Precht behauptet, dass niemand in Deutschland die Vernünftigkeit eines neuen pharmazeutischen Produkts in Bezug auf dafür notwendige Tierversuche überprüft. Als Beispiele führt er wiederholt Husten- und Schnupfenmittel an, die die Menschheit nicht brauche und die nur aufgrund der finanziellen Interessen der Pharmaindustrie immer wieder neu entwickelt werden.

 

Richtig ist, dass nicht rezeptpflichtige Präparate gegen Erkältungsbeschwerden meistens Generika sind und somit nicht mehr dem Patentschutz unterliegen. Große Pharmaunternehmen haben deswegen überhaupt kein Interesse an teuren Neuentwicklungen, weil sie sich einfach nicht lohnen. Außerdem müssen bereits bekannte Arzneistoffe mitnichten erneut an Tieren getestet werden.

 

Fakt ist, dass in der Europäischen Union nur Medikamente zugelassen werden, die erwiesenermaßen wirken. Dies muss in aufwändigen klinischen Studien eindeutig belegt werden, die von Ethikkommissionen begleitet werden. Den zusätzlichen Nutzen eines neuen Arzneimittels überprüft in Deutschland das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Auch wenn seine Methodik von Ökonomen kritisiert wird, muss man dem Institut zugutehalten, dass es fachlich unabhängige und evidenzbasierte, also auf Fakten basierte, Gutachten erstellt.

 

10. Wissenschaftler und Tierversuche

 

Precht behauptet, dass nicht wenige Wissenschaftler beim Thema Tierversuche gern einräumen würden, dass viele Experimente nicht erforderlich wären.

Richtig ist, dass die große Mehrheit sowohl der Wissenschaftler als auch der Ärzte, sich klar für Tierversuche aussprechen. Es gibt nur sehr wenige Fragen, bei denen sich Mediziner und Forscher so einig sind: Tierversuche sind für lange Zeit noch unerlässlich.

 

„Ethik des Nichtwissens“

 

Jedem, der auf der Suche nach verlässlichen Informationen oder Aussagen zur Ethik von Tierversuchen ist, begegnet in dem Kapitel zu Tierversuchen der blanke Hohn. Precht hat sich weder mit dem Tierschutzgesetz, das er als „Tiertötungsgesetz“ bezeichnet, noch mit anderen Hintergründen ausreichend beschäftigt. Die sorgfältig recherchierte Broschüre der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu Tieren in der Forschung bemängelt er als Hochglanzbroschüre voller Lügen zur Verteidigung des „hundertausendfachen Sterben[s] von Tieren […] ohne Wenn und Aber“. Precht folgt damit lediglich der Rhetorik radikaler Tierversuchsgegner und Kritikern der „Schulmedizin“, die er seltsamerweise sämtlich zu kompetenten Forschungs-Insidern stilisiert.

 

Fazit

 

Precht unterstellt den Forschern, die Tierversuche durchführen, eine Sextanerlogik. Dabei macht er selbst viele grobe Anfängerfehler. Wer hofft, bei „Tiere denken“ eine fundierte ethische Abhandlung zu finden, die das Für und Wider von Tierversuchen abwägt, das Tierleid und menschlichen Nutzen kontrastiert, wird fundamental enttäuscht. Neben offensichtlichen fachlichen Mängeln zieht sich durch Prechts Werk ein dilettantischer Schreibstil, der das Buch zu einer literarischen Zumutung macht. Von einem Philosophen mit intellektuellem Anspruch, der sich die Analyse der Mensch-Tier-Beziehung zur Lebensaufgabe gemacht hat, darf man deutlich mehr erwarten.

 

Richard David Precht, „Tiere denken — Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen“, 512 Seiten, Goldmann Verlag

 

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