Im dritten Teil der Interviewreihe anlässlich des internationalen Tages des Versuchstieres am 24. April spricht Florian Dehmelt u.a. über mögliche Folgen eines Ausstiegs aus Tierversuchen. Er ist Neurowissenschaftler an der Uniklinik Tübingen, und engagiert sich ehrenamtlich beim Verein Pro-Test Deutschland.
Was haben wir den in der Wissenschaft verwendeten Tieren zu verdanken?
Florian Dehmelt: In unserer Gesellschaft „benutzen“ wir viele Tiere, weil wir uns davon einen Vorteil erhoffen. Wir nutzen sie als Nahrung, als Trostspender, als Helfer oder als Spielkameraden. Und wir benutzen sie auch in der Forschung, um mehr über sie und uns zu erfahren. Das tun wir, weil Tiere in vielerlei Hinsicht ganz anders sind als wir, und wir davon lernen können – und wir tun es, weil sie uns in vielerlei Hinsicht auch unglaublich ähneln. Wenn wir Tierversuche machen, dann fügen wir ihnen fast immer ein ganz konkretes Leid zu, ohne mit Sicherheit zu wissen, was bei dem jeweiligen Versuch herauskommen wird. Deshalb ist das immer eine schwierige ethische Frage, ob es besser ist, einen bestimmten Versuch bewusst zu machen und dadurch jetzt Leid zu verursachen, oder ihn bewusst zu unterlassen und dadurch womöglich zukünftiges Leid zu verursachen. Weil wir uns in den letzten Jahrzehnten aber tatsächlich entschieden haben, bestimmte Tierversuche zu machen, wissen wir heute viel besser, was im Gehirn psychisch leidender Menschen passiert, und dass wir ganz anders mit ihnen umgehen sollten als früher. Wir verstehen viel besser, welche Stoffe unserer Umwelt schaden oder zum Beispiel Krebs verursachen. Und wir verstehen viel besser, wie und warum sich Tiere wie wir von anderen Tierarten unterscheiden.
Nennen Sie bitte ein konkretes Beispiel in der heutigen medizinischen Versorgung, das auf Tierversuche zurückgeht.
Dehmelt: Ich habe mich irgendwann im Studium entschieden, dass ich gerne einmal in der Hirnforschung arbeiten würde. Also habe ich zusammen mit ein paar Unikollegen Seminare und Kurse besucht, um so viel wie möglich über das Hirn zu erfahren. Das war erst einmal völlig verwirrend, weil es im Laufe der Jahrzehnte schon tausende Studien gab, die alle scheinbar unzusammenhängende Fakten produzierten. Als wären es unzählige kleine Bausteine, die niemand zusammensetzen konnte. Und dann haben wir plötzlich von einer neuen Behandlung gehört, die damals an Patienten ausprobiert wurde: der Hirnschrittmacher, auch Tiefenhirnstimulation genannt. Ein kleines Gerät, das mitten ins Gehirn von Parkinsonpatienten eingesetzt wird, die dann auf Knopfdruck ihre eigenen Symptome verringern – sodass sie sich fast normal bewegen, selbst anziehen und sogar Fahrrad fahren können. Wir konnten es alle nicht fassen, denn keiner von uns hatte so etwas für möglich gehalten! Aber einige Forscherinnen hatten es geschafft, all die vielen kleinen Bausteine genau richtig zusammenzusetzen. Wir wissen bis heute nur so ungefähr, wie dieser Hirnschrittmacher eigentlich funktioniert. Deshalb hätten wir ihn auch niemals aufgrund von Theorien oder Simulationen fertig bauen können. Aber dass er funktioniert, daran gibt es keinen Zweifel – und bewiesen wurde das bei Versuchen an mehreren Dutzend sogenannter Hundsaffen. Danach hat man sich getraut, ihn auch Menschen einzusetzen. Und heute gibt es weit über 100.000 Patienten weltweit, die mit einem Hirnschrittmacher leben.
Warum ist die biomedizinische Forschung auf Versuche mit Tieren angewiesen?
Dehmelt: Wenn wir verstehen wollen, was Leben ist, müssen wir echte Lebewesen betrachten. Das ist dann wichtig, wenn wir Krankheiten bei menschlichen oder nichtmenschlichen Tieren heilen wollen. Und auch, wenn wir verstehen wollen, was Ängste oder Schmerzen eigentlich sind und wie sie entstehen. Oder wenn wir herausfinden möchten, welche Bedürfnisse Tiere tatsächlich haben, wie sie die Welt wahrnehmen, und wie wir deshalb mit ihnen umgehen sollten. Vieles lässt sich an menschlichen Freiwilligen ausprobieren, durch psychologische Fragebögen oder mit Hilfe von theoretischen Modellen. Oft aber stoßen wir auf ungeklärte Fragen, die wir für wirklich wichtig halten – deren Untersuchung aber starke Verletzungen, Ängste und Leid verursachen würde. Dann müssen wir uns entscheiden: Ist es besser, dafür Tiere zu „benutzen“, und ihr Leiden so weit wie möglich zu verringern? Oder ist es besser, auf diese Forschung ganz zu verzichten?
Was würde ein Verzicht auf Tierversuche für die künftige medizinische Versorgung bedeuten?
Dehmelt: Man kann prinzipiell auf jeden Tierversuch verzichten. Dann ist bloß wichtig, auch ganz bewusst die Konsequenzen zu akzeptieren. Wenn wir aufhören, Grundlagenforschung mit Tieren zu machen, merken wir die Folgen wahrscheinlich erst in vielen Jahren. Auch deshalb, weil wir die Ergebnisse der Tierforschung aus anderen Ländern ja nach wie vor mitbekommen würden, selbst wenn wir sie bei uns daheim verbieten. Ganz schnell würden wir jedoch in der Medikamentenentwicklung merken, dass etwas fehlt: Alle neuen Medikamente werden in Deutschland immer von menschlichen Freiwilligen ausprobiert, bevor sie auf den Markt kommen. Dazu kann sich übrigens fast jeder freiwillig melden, und ich habe großen Respekt vor den Leuten, die das tun. Das ist nämlich immer riskant. Bisher werden solche neuen Wirkstoffe aber vorher an mehreren Tierarten ausprobiert, um so weit wie möglich herauszufinden, ob sie für die menschlichen Freiwilligen zu gefährlich sind. In Zukunft müssten die Freiwilligen dann weitgehend ungetestete Wirkstoffe schlucken. Finden wir nicht genug Freiwillige, die ihre eigene Gesundheit riskieren wollen, müssten wir entweder auf die meisten neuen Medikamente verzichten – und das, obwohl viele alte Medikamente im Laufe der Zeit unwirksam werden. Oder wir müssten den Pharmaunternehmen erlauben, auch ungetestete Medikamente zu verkaufen. Die hätten sicher nichts dagegen, denn dann könnten sie ja auf viele teure Tests verzichten…
Was entgegnen Sie auf Behauptungen, Tierversuche seien heute schon durch Alternativmethoden ersetzbar?
Demelt: Es gibt viele tolle Methoden ganz ohne Tierversuche. Man kann also die Untersuchung eines echten Lebensvorgangs in einem echten Lebewesen dadurch ersetzen, dass man stattdessen eine ähnliche Untersuchung an einem vereinfachten, künstlich gebauten Modell durchführt – Computersimulationen, künstliche Organe, Versuche im Reagenzglas. Aber genau das ist oft das Problem: man kann erst dann so ein vereinfachtes Modell bauen, wenn man den echten Lebensvorgang schon ziemlich gut verstanden hat. Dass man viele Tierversuche nicht ersetzen kann, liegt also nicht an mangelndem Fördermitteln, oder an mangelnder Kreativität der Forscher. Sondern daran, dass man fast immer erst einmal das Echte erforschen muss.