Tag des Versuchstieres – Tierversuche ermöglichten Therapien gegen Volkskrankheiten

Anlässlich des internationalen Tages des Versuchstiers am 24. April startet „Tierversuche verstehen“ eine Interviewreihe mit renommierten Forschern. Im ersten Teil der Interviewreihe zum internationalen Tages der Versuchstieres sprach „Tierversuche verstehen“ mit Prof. Dr. Christa Thöne-Reineke. Sie leitet an der Freien Universität Berlin das Institut für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde. Sie betont, dass nahezu jeder Fortschritt in der Medizin auf Tierversuchen beruht.

Was haben wir den in der Wissenschaft verwendeten Tieren zu verdanken?

Prof. Christa Thöne-Reineke: Wir haben diesen Tieren einen Großteil des medizinischen Fortschritts in unserer Gesellschaft zu verdanken. Zum Beispiel wären die Operation am offenen Herzen, die Bypass-Operation oder die Herztransplantation ohne Tierversuche nicht möglich gewesen. Allein bis 1990 sind für die Entdeckung von Arzneimitteln oder bahnbrechende medizinische Grundlagenforschung insgesamt 60 Nobelpreise vergeben worden, etwa 1905 der Nobelpreis an Robert Koch für die Aufklärung der Pathogenese der Tuberkulose oder der Nobelpreis in Medizin und Physiologie 2013 an die Forscher Thomas Südhof, James Rothman und Randy Schekman für ihre Aufklärung der synaptischen Plastizität und wie sich diese spezifiziert; 2014 erhielten den Preis John O´Keefe sowie May-Britt und Edvard Moser für die Entdeckung eines inneren Navigationssystems im Gehirn von Ratten. Alle diese Studien sind der Grundlagenforschung zuzuordnen und tierversuchsbasiert.

Zudem dienen Tierversuche der Suche nach neuen Therapeutika für Mensch und Tier. Hier sind Tierexperimente meist gesetzlich vorgeschrieben. In der translationalen Forschung werden physiologische Untersuchungen und Charakterisierungen von Erkrankungen durchgeführt, um neue Ansätze für Behandlungskonzepte zu generieren bzw. die Erkrankungen zu verstehen. Die biomedizinische Grundlagenforschung befasst sich mit komplexen Vorgängen im lebenden Organismus und ist der Bereich, in dem der größte Teil der Tierexperimente durchgeführt wird.

Nennen Sie bitte ein konkretes Beispiel in der heutigen medizinischen Versorgung, das auf Tierversuche zurückgeht.

Thöne-Reineke: Die Behandlung der großen Volkskrankheiten wie Bluthochdruck oder Diabetes, aber auch die Chemotherapie zur Bekämpfung von Krebs sowie die Behandlung von Infektionskrankheiten wie HIV. Laut dem aktuellen deutschen Gesundheitsbericht „Diabetes 2017“ sind etwa 6,7 Millionen Menschen in Deutschland an Diabetes mellitus erkrankt, darunter etwa zwei Millionen, die noch nichts von ihrer Erkrankung wissen. Pro Jahr entstehen durch Diabetes und seine Folgekrankheiten Kosten von rund 35 Milliarden Euro für Behandlung, Pflege, Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung. Denn ein schlecht eingestellter Blutzucker führt Jahr für Jahr zu Amputationen, Erblindungen, ein Leben mit Dialyse oder Herz- und Gefäßkomplikationen: Drei Viertel aller Menschen mit Diabetes sterben letztlich an Herzinfarkt oder Schlaganfall.

Warum ist die biomedizinische Forschung auf Versuche mit Tieren angewiesen?

Thöne-Reineke: Derzeit sind Tierversuche gesetzlich vorgeschrieben, um die Sicherheit für Menschen zu erhöhen. In der Deklaration von Helsinki hat der Weltärztebund festgestellt, dass Medizinische Forschung am Menschen den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen entsprechen muss und auf einer umfassenden Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur, relevanten Informationsquellen sowie auf ausreichenden Laborversuchen und gegebenenfalls Tierversuchen basieren soll. Unnötige oder gar willkürliche Forschung am Menschen durchzuführen, verbietet sich. Obwohl die Deklaration von Helsinki nicht bindend ist, beziehen sich weltweit Gesetzeswerke darauf. In Deutschland findet man sie unter anderem in der Berufsordnung für Ärzte wieder. Nahezu jeder Fortschritt in der Medizin basiert also auf Tierversuchen.

Was würde ein Verzicht auf Tierversuche für die künftige medizinische Versorgung bedeuten?

Thöne-Reineke: Grundsätzlich kann sich eine Gesellschaft aus ethischen Gründen für einen vollständigen Verzicht auf Tierversuche entscheiden, wenn sie bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Diese Konsequenzen wären, dass der medizinische Fortschritt und die Entwicklung neuer Therapien deutlich gebremst und erschwert, zum Teil sogar unmöglich würden. Basierend auf dem Grundgesetz Art. 2 Abs. 2 besteht das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das heißt, Patienten haben Anspruch auf medizinische Versorgung. Der Staat hat deshalb die Pflicht, Forschung, die diese Versorgung ermöglicht oder zu verbessern hilft, zu fördern. Ein vollständiger Verzicht auf Tierversuche wäre derzeit auch deshalb nicht realisierbar, weil Tierversuche gesetzlich vorgeschrieben sind und anerkannte Alternativmethoden vielfach fehlen. Die Entwicklung und Validierung von Alternativmethoden müssen forciert vorangetrieben werden, um in Zukunft möglichst viele qualitativ hochwertige, sichere Medikamente auch ohne Tierversuche entwickeln zu können.

Was entgegnen Sie auf Behauptungen, Tierversuche seien heute schon durch Alternativmethoden ersetzbar?

Thöne-Reineke: Fakt ist, dass die Forschung immer komplexer wird. Die Alternsforschung in unserer immer älter werdenden Gesellschaft und die daraus resultierenden Erkrankungen und Behandlungen stellen einen großen Forschungsschwerpunkt dar, ebenso wie etwa der Einfluss des Immunsystems oder die Antibiotikaresistenzen. Diese komplexen Forschungsgebiete können ohne Tierexperimente nicht bearbeitet werden und darum kann in absehbarer Zeit auch nicht komplett auf diese verzichtet werden. Aber das 3R-Prinzip, also Replace, Reduce, Refine – Ersetzen, Reduzieren, Verbessern – muss berücksichtigt werden und wird auch berücksichtigt, um maximalen Erkenntnisgewinn bei möglichst geringer Belastung von Versuchstieren zu erzielen bzw. um so viele Tierversuche wie möglich durch Alternativmethoden zu ersetzen. Hierzu bedarf es einer guten Versuchsplanung und Fachkompetenz auf allen Ebenen, der Auswahl des richtigen Modells und schonender Methoden nach wissenschaftlichen Überlegungen und ethischen Abwägungen.

Es besteht weiterhin großer Forschungsbedarf im Bereich der Ersatz- und Ergänzungsmethoden, um aussagefähige Alternativmethoden zu entwickeln. Die Freie Universität Berlin hat deshalb schon 2014 gemeinsam mit wissenschaftlichen Partnereinrichtungen aus der Region die Berlin-Brandenburger Forschungsplattform BB3R gegründet. Ziel ist es, die Entwicklung und Etablierung von Alternativmethoden ebenso wie tierschonende Arbeitstechniken konsequent voranzutreiben und exzellente Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auf diesem Gebiet auszubilden.

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