Pillen Niederlande

Niederländische Visionen – ein Kommentar zur Strategie des niederländischen Agrarministers

Einen „Übergang zu tierfreier Forschung“ beschreibt der niederländische Nationale Ausschuss zum Schutz von für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tieren in einer Ende 2016 veröffentlichten Stellungnahme im Auftrag des dortigen Landwirtschaftsministers Martijn van Dam. Der scheidende Vorsitzende der Ständigen Senatskommission für tierexperimentelle Forschung der DFG und stellvertretende Vorsitzende der Steuerungsgruppe von „Tierversuche verstehen“ sieht das Strategiepapier jedoch kritisch. Ein Kommentar von Gerhard Heldmaier

Prof. Dr. Gerhard Heldmaier
Gerhard Heldmaier, Foto: privat

Tierversuche sollen in den nächsten 10 Jahren weitgehend abgeschafft werden. Einen Weg in diese Richtung entwickelt das NCad (Netherlands National Committee for the protection of animals used for scientific purposes) in einer 76-seitigen Stellungnahme (Transition to non-animal research, NCad, Dezember 2016). Die Autoren taten dies im Auftrag des amtierenden niederländischen Agrarministers Martijn van Dam, der konkrete Schritte und einen überschaubaren Zeitplan für den Ausstieg aus Tierversuchen forderte. Gesetzlich vorgeschriebene Toxizitäts-und Sicherheitsprüfungen, für die in den Niederlanden ähnlich wie in Deutschland etwa ein Viertel aller Versuchstiere eingesetzt werden, sollen demzufolge möglichst unmittelbar abgeschafft werden. Dabei soll es jedoch nicht bleiben, sondern der Schwung der Maßnahmen in diesem Bereich soll dazu genutzt werden, Tierversuche insgesamt auf den Prüfstand zu stellen und durch Alternativen zu ersetzen. Die Niederlande sollen bis zum Jahr 2025 „world leader“ für Innovation ohne Labortiere werden.

„Die geforderte Abschaffung von Tierversuchen bis zum Jahr 2025 kann kaum gelingen.“

Mit zahlreichen Beispielen belegt die Stellungnahme die Bedeutung von Tierversuchen für den Erkenntnisgewinn und den medizinischen Fortschritt. Sie erläutert technische Entwicklungen, mit denen die Anzahl und die Belastung von Tieren in der Forschung bereits verringert worden ist und möglicherweise weiter verringert werden kann. Angesichts dieser Faktenlage muss jedem Leser klar werden, dass die eingangs geforderte weitgehende Abschaffung von Tierversuchen bis zum Jahr 2025 kaum gelingen kann.

Bei gesetzlich vorgeschriebenen Toxizitätsprüfungen wird das ethische Dilemma der Tierversuche besonders deutlich. Tiere müssen leiden, um das Leiden von Menschen zu vermeiden. Weltweit wird nach Ersatzmethoden gesucht. Die Stellungnahme vertritt die Auffassung, dass es bereits genügend technische und strategische Möglichkeiten gibt, um vollständig aus Tierversuchen auszusteigen, ohne dass der Schutz des Menschen beeinträchtigt wird. Die Autoren berufen sich dabei auf die Entwicklung neuer Techniken der Zell- und Gewebebiologie. In diesen Gebieten hat die Forschung in den letzten Jahren tatsächlich erhebliche Fortschritte gemacht, die in Zukunft für Verträglichkeitsprüfungen ohne Tierversuche genutzt werden können.

Gänzlicher Verzicht von Tierversuchen undenkbar

Allerdings wird man nie ganz auf Tierversuche verzichten können, denn die in vitro-Methoden geben Einblick in wichtige biochemische Details über das Verhalten einzelner Zellen oder von Zellverbänden, können aber nicht das komplexe Zusammenspiel aller Zellen und Botenstoffe in einem lebenden Organismus ersetzen. Am Ende von in vitro-Testreihen muss die Wirksamkeit und Verträglichkeit eines Medikaments zum gegenwärtigen Zeitpunkt stets im Tierversuch überprüft werden. Das gilt auch für die von vielen Experten als besonders aussichtsreich eingeschätzte „organ-on-a-chip-Methode“, mit der zelluläre Interaktionen direkt beobachtet werden können. Die Autoren der Stellungnahme halten es für nicht unwahrscheinlich („not inconceivable“), dass die „organ-on-a-chip-Methode“ im Lauf der nächsten 50 Jahre (!) zur Einsatzreife entwickelt wird und Tierversuche teilweise ersetzen könnte. Damit räumen sie selbst ein, dass das angestrebte Ziel eines vollständigen Ausstiegs aus Tierversuchen nicht möglich und der angekündigte Zeitplan bis 2025 eher Wunsch bleiben als Realität werden wird.

„Wenn wir auf Tierversuche verzichten, verzichten wir auf ein großes Stück Sicherheit in der Medizin.“

Gesellschaftlich ließe sich ein solches Ziel durchaus aushandeln. Voraussetzung dafür wäre, die Menschen verzichten auf ein großes Stück Sicherheit in der Medizin. Hier betritt die Stellungnahme ein ethisch sehr problematisches Gebiet, denn sie fordert neue Methoden zur Risikobewertung von Substanzen, eine Überprüfung der Risikobereitschaft der Menschen, Investitionen in Risiko-Kommunikation, und schlägt vor, dass vermehrt kranke und gesunde Menschen in Untersuchungen einbezogen werden. Es wird nicht einfach sein, die Menschen davon zu überzeugen und dies mit den Standards der ärztlichen Ethik in Übereinstimmung zu bringen wie sie in der Helsinki-Deklaration niedergelegt worden sind.

Als Beispiel wird der Umgang mit Impfstoffen genannt. NCad fordert, dass die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Impfstoffen, die bereits erforscht und zugelassen sind (wofür immer Tierversuche notwendig waren), und die in einem einheitlichen Verfahren hergestellt werden, nicht bei jeder neuen Produktionslinie („batch“) an Tieren überprüft werden. Angesichts der limitierten Kontrollierbarkeit von Zellkulturen, der komplexen Produktionstechnik und der noch in vielen Teilen unerforschten Komplexität des Immunsystems ist der grundsätzliche Verzicht auf Prüfung im Tier riskant. Die Ausbreitung von hoch infektiösen Erregern wie Kinderlähmung, Masern oder Grippe wird nur dann eingedämmt, wenn möglichst alle geimpft werden. Leider gibt es einen wachsenden Prozentsatz an Impfgegnern und es ist zu befürchten, dass ein höheres Risiko die Impfbereitschaft weiter sinken lässt und so die Ausbreitung von Infektionskrankheiten begünstigt.

„Nur von der realen Natur können wir lernen, wie das Leben funktioniert, wie es entstanden ist, und wie Lebensvorgänge kausal zusammenhängen.“

Für die Grundlagenforschung (in Deutschland 31.1 % aller Versuchstiere in 2014) räumen die Autoren freimütig ein, dass ein Verzicht auf Tierversuche nicht möglich ist, aber sie erwarten, dass die Forschung innerhalb der nächsten 10 Jahre je nach Fachgebiet Visionen entwickelt, wie ohne Tierversuche neue Erkenntnisse gewonnen werden können.

Angesichts dieser Forderung ist nicht weiter verwunderlich, dass viele Forscher mit Fassungslosigkeit auf das NCad reagierten, wie in der Stellungnahme erwähnt wird. Nur von der realen Natur können wir lernen, wie das Leben funktioniert, wie es entstanden ist und wie Lebensvorgänge kausal zusammenhängen. In der biomedizinischen Forschung ist die Untersuchung aller Tiere notwendig, von den Schwämmen bis zu Säugetieren und dem Menschen. Allen Forschern ist klar, dass wir heute nur einen Bruchteil der tierischen Lebensvorgänge verstanden haben. Dennoch war und ist dieses Wissen bereits Grundlage erheblicher medizinischer Fortschritte. Trotzdem tappen wir bei vielen medizinischen Problemen noch im Dunkeln. Krebs, Diabetes, Kreislauferkrankungen, immunologische Störungen usw. können oft nur in unbefriedigendem Umfang therapiert werden. Die meisten neurologischen Erkrankungen sind weder verstanden noch kausal therapierbar. Es ist fraglich ob kranken Menschen mit Visionen geholfen werden kann.

Forderungen entsprechen dem 3R-Prinzip

Wegen der offensichtlichen und faktischen Schwierigkeiten, aus Tierversuchen auszusteigen, fordern die Autoren ein Umdenken in der Forschung und der gesamten Gesellschaft. Dazu wird eine „Multi-Level-Perspective“ (MLP) ( in etwa: Vielschichtige Perspektive) entwickelt, deren Erläuterung in der Stellungnahme einen breiten Raum einnimmt. Dahinter steht die Überlegung Frank Geels’, dass Gesellschaften einem kontinuierlichen Wandel in ihrer Einstellung zu sozialen, kulturellen und technischen Fragen unterliegen. Da dieser Wandel sowieso stattfindet, könnte er auch genutzt werden, um verzwickte Probleme zu lösen, wie sie aus dem Dilemma zwischen menschlicher Sicherheit und den dafür notwendigen Tierversuchen entstehen. Die Autoren geben zahlreiche Beispiele für den Zusammenhang zwischen politischen und sozialen Faktoren (z.B. Gesundheit, Sicherheit), gesetzlichen Regelungen, wissenschaftlicher Notwendigkeit (z.B. Erkenntnisgewinn) und Tierversuchen. Aus diesen Beispielen heraus werden Stellschrauben entwickelt mit dem Ziel, in Zukunft auf Tierversuche zu verzichten.

„Keine der geschilderten Stellschrauben, um Tierversuche zu reduzieren, ist wirklich neu. Weltweit bemühen sich Forscher, das Leiden von Tieren im Sinne der 3R zu verringern.“

Keine der geschilderten Stellschrauben ist wirklich neu und es wird im Grunde berichtet, welche Fortschritte bereits in der Vergangenheit gemacht wurden, um Tierversuche zu reduzieren. Die Forderungen beschränken sich größtenteils darauf, diesen Weg weiter zu verfolgen. Dies entspricht weltweiten Bemühungen in der Forschung, um das Leiden von Tieren im Sinne der 3R zu verringern. Trotzdem haben diese MLP-Überlegungen einen unangenehmen Beigeschmack, denn es verbirgt sich dahinter die unverblümte Absicht, den gesellschaftlichen Wandel zu steuern („desired transition“). “Teaching a new generation of professionals involved in biomedical research without the use of animals may trigger the paradigm shift that is required.” Solche Pläne sind äußerst fragwürdig, denn sie enthalten den Anspruch zu wissen, in welche Richtung sich die Gesellschaft als Ganzes wandeln soll. Hier spielen die Autoren mit dem Feuer. Es ist zweifelhaft, ob derartige Überlegungen zu einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung passen.

Papier ein Ausdruck von Forschungsfeindlichkeit

Der Ruf nach Visionen und Planspielen für einen gesellschaftlichen Wandel kann interessante Diskussionen anregen, aber er bestätigt im Grunde, dass in der real existierenden Welt auf Tierversuche nicht verzichtet werden kann. Dies widerlegt auch die im Titel und zu Beginn der Stellungnahme geäußerte Überzeugung, dass Tierversuche in den nächsten Jahren abgeschafft werden können. So wie die Stellungnahme geschrieben ist, entsteht jedoch der Eindruck, Tierversuche seien bereits jetzt entbehrlich. Dies schadet der Forschung, der Verbesserung der medizinischen Versorgung der Menschen und der Entwicklung von Alternativmethoden für Tierversuche.

„Durch die Stellungnahme entsteht der Eindruck, Tierversuche seien bereits jetzt entbehrlich. Doch dies würde der Entwicklung neuer Alternativmethoden sogar schaden.“

Die Stellungnahme richtet sich gegen die Verwendung von Tieren in der Forschung (0.35% aller verwendeten Tiere in Deutschland), und man fragt sich, warum nicht wesentlich deutlicher gegen andere Verwendungen von Tieren argumentiert wird, z.B. zur Nahrungsmittelproduktion (99,15%). Die bei der Netzfischerei erbeuteten Millionen an Fischen und deren Beifang sind darin noch nicht enthalten. Die Autoren haben den Auftrag erhalten, sich zur Nutzung von Tieren in der Forschung zu äußern. Wenn sie daraus aber die Notwendigkeit zu einem Wandel der Gesellschaft ableiten, dann hätten sie klarmachen müssen, dass dies nur einen winzigen Bruchteil der Nutzung von Tieren durch Menschen betrifft.

So liegt der Verdacht nahe, dass in den Argumenten der Stellungnahme eine tief sitzende, vielleicht unbewusste, generelle Forschungsfeindlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Die Stellungnahme entlarvt sich selbst als ein Ergebnis des gegenwärtig herrschenden postfaktischen Zeitgeists, der unbestreitbare Tatsachen ignoriert und alles durch die Brille der eigenen Wünsche sieht.

Trotz der europaweit übereinstimmenden Hoffnung, Tierversuche langfristig gänzlich ersetzen zu können, vermeidet man in anderen EU-Ländern zu Recht, diese Hoffnung mit einem konkreten Datum zu verknüpfen. Vor allem das Ziel, bis 2025 vollständig auf regulatorische Tierversuche verzichten zu können, ist bereits deshalb utopisch, weil die rechtlichen Bedingungen in diesem Bereich schon längst nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene, sondern für die gesamte EU verhandelt und entschieden werden müssen. Es ist daher davon auszugehen, dass dieses Ziel nicht eingehalten werden kann, was alle Beteiligten nach Ablauf der Frist in Erklärungsnöte bringen dürfte.

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