Neues Zentrum in Gießen stärkt die deutsche 3R-Forschung

Die Forschung zu den 3R (Replace, Reduce, Refine) in Deutschlang wird weiter gestärkt: Seit Oktober 2017 gibt es an der Justus Liebig-Universität in Gießen ein neues 3R-Zentrum.

Gleich zwei neue Professuren wurden eingerichtet, um Tierschutz rund um die 3R in Forschung und Lehre noch weiter voranzutreiben. Die neuen Stellen sind in den Fachbereichen Medizin bzw. Veterinärmedizin angesiedelt. Prof. Peter Jedlička besetzt die neue medizinische Professur für Computerbasiertes Modelling im 3R-Tierschutz. Inhaberin der neuen Professur für Tierschutz und Versuchstierkunde mit dem Schwerpunkt Refinement ist die Tierärztin Prof. Stefanie Krämer. Tierversuche verstehen sprach mit beiden Wissenschaftlern.

Für das neue 3R-Zentrum der Universität Gießen sind zwei neue Professuren geschaffen worden. Welchen Schwerpunkte wollen Sie setzen und wie fügt sich das in die gesamten Aktivitäten der deutschen 3R-Forschung ein?

Prof. Krämer: Meine Professur ist am Fachbereich Veterinärmedizin angesiedelt und inhaltlich auf den Tierschutz und die Versuchstierkunde mit dem Schwerpunkt Refinement nach dem 3R-Prinzip ausgerichtet. Meinen Fokus setze ich dabei auf die sogenannte Verfeinerung von notwendigen Tierversuchen, um auf diesem Wege die Belastungen für Versuchstiere so weit wie möglich zu reduzieren. Im Vordergrund steht die Erarbeitung sogenannter Belastungskriterien sowie eine gute Ausbildung derjenigen Personen, die mit Versuchstieren arbeiten. Zur Erfüllung dieser Aufgaben ist eine exzellente Vernetzung essentiell.

3R-Prinzip
Wofür steht das 3R-Prinzip bei Tierversuchen?

Wir müssen die Probleme erkennen und gemeinsam Strategien entwickeln, die zu einer effektiven Belastungsminimierung und langfristig zu einem Ersatz von Tiermodellen beitragen. Aus meiner Sicht fügt sich das Gießener 3R-Zentrum hervorragend in das deutschlandweit bestehende 3R-Netzwerk ein. Allen in diesem Bereich tätigen Personen ist bewusst, dass die 3R-Forschung keine Plattform für einsame Helden ist, sondern eine erfolgreiche Umsetzung des 3R-Konzepts nur dann möglich wird, wenn alle Beteiligten interaktiv und interdisziplinär agieren. Wir möchten kontinuierlich den Austausch zu den anderen Zentren Deutschlands ausbauen. Auf Grund der vielfältigen Ansätze sowohl in der biomedizinischen Forschung als auch hinsichtlich der Entwicklung von Alternativverfahren, sehe ich keine Überschneidungspunkte. Konkurrenzgedanken sind hier fehl am Platz, da jede Erkenntnis als Puzzlesteinchen auf dem Weg zur Erfüllung des 3R-Konzeptes zu verstehen ist.

Prof. Jedlička: Mein wissenschaftlicher Hintergrund ist die Neurowissenschaft mit einem Schwerpunkt in der Neuroanatomie, Neurophysiologie und Computer-basierten Neurowissenschaft (Computational Neuroscience). Im Rahmen der Erforschung und Entwicklung von Ersatzmethoden für Tierversuche setze ich meinen Fokus auf die Entwicklung von komplexen und biologisch realistischen Computermodellen der Nervenzellen und Nervenzell-Netzwerken im gesunden und erkrankten Gehirn. Ich plane, neue Simulationsmethoden zu entwickeln und einzusetzen, die sowohl die Funktion als auch die Morphologie von Nervenzellen abbilden und in einem virtuellen Raum realitätsnah darstellen können.

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Meine Professur ist am Fachbereich Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen angesiedelt, wodurch eine enge Zusammenarbeit mit der medizinischen Grundlagenforschung ermöglicht wird. Ich möchte – über die Neurowissenschaft hinaus –Computermodelle entwickeln, die dazu beitragen, Entzündungsprozesse in unterschiedlichen Organen besser zu verstehen. Das Immunsystem, das die Entzündungsprozesse steuert, steht in einer engen Wechselwirkung mit dem Nervensystem. Es gibt eine große Anzahl von Molekülen, die sich gegenseitig beeinflussen und das komplexe Zusammenspiel zwischen dem Abwehrsystem und dem Nervensystem modulieren. Diese Prozesse sind nicht vollständig verstanden. Es ist daher wichtig, neue mathematische Modelle solcher Neuroimmun-Interaktionen zu erstellen und zu validieren.

Computermodelle werden helfen, verschiedene Hypothesen in silico zu testen, bevor sie in vitro (z.B. in einer Zellkultur) überprüft werden. Ein in-vivo-Versuch im Tier wäre nur dann notwendig, wenn man die Effekte auf der systemischen Ebene zeigen müsste. Eine enge Zusammenarbeit mit Frau Prof. Krämer im Fachbereich Veterinärmedizin und intensiver Austausch mit anderen 3R-Zentren in Deutschland ist mir sehr wichtig.

Welche neuen Entwicklungen sind beim Refinement denkbar und wie wichtig ist die Forschung in Bezug zu den anderen beiden zwei Rs?

Prof. Krämer: Die Entwicklungen in der biomedizinischen Forschung sind äußerst dynamisch. Das bedeutet wiederum, dass jedes neue tierbasierte Verfahren, jede neue Technik hinsichtlich der Möglichkeiten des Refinements überprüft und im Sinne der Belastungsminimierung adaptiert werden muss. Die Verfasser des 3R-Konzepts, Russel und Burch, definierten 1959 den Begriff des Refinements mit den Worten: „Jede Maßnahme, die dazu beiträgt, die Häufigkeit oder Schwere sogenannter inhumaner Prozeduren zu verringern, an Tieren, die noch für wissenschaftliche Zwecke eingesetzt werden müssen“.

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Da es nun das Ziel der Refinement-Forschung ist, für jedes gesetzlich-genehmigte Tierversuchsvorhaben ein Höchstmaß an Humanität zu erzielen, ergibt sich ein äußerst weitgefächertes Handlungsfeld. Dieses erstreckt sich von Maßnahmen zur Erhöhung des Wohlbefindens bis hin zu Konzepten zur Vermeidung von Schmerz und Leid und schließt Aspekte der Haltung genauso ein wie das Erlernen des richtigen Umgangs mit den Versuchstieren. Da die höchste Form der Humanität natürlich im Verzicht auf das Tiermodell liegt, greifen die drei Rs stringent ineinander.

Grundsätzlich sind die drei Rs nicht als isolierte Größen zur betrachten, sondern bilden viele Schnittmengen, die eine enge Zusammenarbeit der Bereiche erforderlich machen. So ist etwa die Entwicklung computerbasierter Modelle im Sinne des Replacement auf „echte“ Daten angewiesen. Zu einer Reduzierung von Tierzahlen im Sinne der Reduction kann ein hohes Maß an Standardisierung in der Haltung beitragen, das sich wiederum positiv auf das Wohlbefinden der Tiere im Sinne des Refinements auswirkt. Sie sehen also, wie interaktiv das Konzept ausgerichtet ist. Nur in der interdisziplinären Zusammenarbeit können die angestrebten Verbesserungen erfolgreich umgesetzt werden.

Grafik: Belastungskategorien von Tierversuchen laut deutschem Tierschutzgesetz.
Welche Belastungskategorien unterscheidet das Tierschutzgesetz bei Tierversuchen?

In diesem Szenario erhält die Refinement-Forschung eine herausragende Bedeutung: Wir müssen die Konzepte zur Belastungseinschätzung deutlich verbessern und die Methoden so weit verfeinern, dass wir im Experiment schon sehr früh – also unter Vermeidung größerer Leiden oder Schäden – zu wichtigen Erkenntnissen kommen können. Eine oftmals unterschätzte, aber überaus wichtige Einflussgröße stellt der Mensch dar. Eine umfassende Qualifikation und Sensibilisierung aller am Tierexperiment beteiligten Personen ist unumgänglich. Gerade Tierärztinnen und Tierärzten kommt hier eine sehr wichtige Stellung zu, da die veterinärmedizinische Ausbildung viele notwendige Aspekte zur Biologie, zum Verhalten und auch zur Pathologie der Tiere vereint. Daher sehe ich die Einbindung der Veterinärmedizin der Justus-Liebig-Universität als absolute Stärke des Gießener 3R-Zentrums an.

Immer wieder fordern Tierschützer, generell auf Tierversuche zu verzichten. Sie behaupten, dass Tierversuche keine Rückschlüsse auf den Menschen zulassen würden. Was sagen Sie zu diesen Behauptungen?

Stephanie Krämer ist Professorin für Tierschutz und Ethologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Foto: Rolf K. Wegst

Prof. Krämer: Die Möglichkeit, künftig gänzlich auf Tierversuche zu verzichten, darf nicht allein nur als eine Forderung der Tierschützer dargestellt werden, sondern ist die Idealvorstellung von tierexperimentell forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Gerade aus dieser Motivation heraus sind die 3R-Aktivitäten in der jüngsten Vergangenheit intensiv gesteigert worden. Nicht nur die Wissenschaft hat die Notwendigkeit zur Generierung neuer alternativer Verfahren erkannt, sondern auch die Politik. 3R-Forschung kann nur erfolgreich sein, wenn auch die finanziellen Möglichkeiten gegeben sind, gute Ideen soweit voranzutreiben, dass daraus verlässliche und aussagekräftige Alternativverfahren entwickelt werden können.

Es gibt bereits eine Vielzahl von sehr guten und bereits angewendeten Alternativen. Aber trotz aller Bemühungen – zum Beispiel in der Entwicklung von Organsystemen auf Chips – stoßen diese Modelle noch an Grenzen, so dass sie aus Sicht der Wissenschaft den Verzicht auf Tierversuche noch nicht zulassen.

Tiermodelle haben in der biomedizinischen Forschung einen sehr hohen Stellenwert. Dies wäre nicht der Fall, wenn sich damit keine Rückschlüsse auf den Menschen ziehen ließen. Tierbasierte Forschung ist – etwa im Gegensatz zu in-vitro-Verfahren – äußerst aufwendig und ressourcenbindend. Dabei ist das Tiermodell – wie auch das Zellkulturmodell – nur ein Modell. Modelle basieren auf Ähnlichkeiten hinsichtlich ihrer Funktionsweise, ihrer Struktur oder auch hinsichtlich ihres Verhaltens zu einem Original. Das Original kann dabei der Mensch oder auch das Tier sein, denn auch die Tiermedizin ist in vergleichbarer Weise wie der Mensch auf den biomedizinischen Fortschritt angewiesen.

Grafik: Tierversuche und Forschungsbereiche
Zu welchen Forschungsarten tragen welche Tierarten bei?

Die Interpretation von Daten hängt von der genauen Kenntnis des eingesetzten Modells ab: Worin liegen dessen Stärken? Worin die expliziten Schwächen? Und wie sind in diesem Kontext die gewonnenen Daten zu verstehen? Natürlich ist eine Maus kein Mensch, und es ist auch nicht zu leugnen, dass in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden. Daher müssen Misserfolge ebenso kommuniziert werden wie die zahlreichen Erfolge, die durch den Einsatz von Tiermodellen erzielt wurden.

Ein Problem in der Diskussion um Tierversuche liegt aus meiner persönlichen Sicht in einer „Schwarz-Weiß-Argumentation“. Die Dinge verlangen aber nach einer differenzierteren Betrachtungsweise. Das in der modernen Gesellschaft allgegenwärtige Streben nach Perfektion sehe ich speziell in der Wissenschaft sehr kritisch. Der absolute Anspruch auf Perfektion verringert die Offenheit, aber auch die Möglichkeiten der Innovation und Erfindungskraft. In dieser Logik führen Misserfolge in der Umkehr der Perfektion zur Tabuisierung. Dieser Abbruch des Dialogs wäre aus meiner Sicht fatal. Alle Beteiligten sollten gesprächsbereit bleiben, den Austausch und das kritische Gespräch suchen. Dies führt auf lange Sicht zum Erfolg, wie wir anhand der Bestrebungen zur Umsetzung des 3R-Gedankens deutlich sehen können.

Prof. Jedlička: Auch wenn sich durch in-silico und in-vitro-Methoden viele wissenschaftliche Probleme erfolgreich lösen lassen: Bei bestimmten Fragestellungen kann man auf Tierversuche noch nicht verzichten. Experimentelle Daten aus Tierversuchen können etwa notwendig sein, um die Parameter der Computermodelle, die die Tierversuche ersetzen sollen, realitätsnah einzustellen. Tierversuche können vor allem dann wissensbringend und aussagekräftig sein, wenn man komplexe biologische Prozesse auf multiplen Skalen im gesamten Organ oder Organismus untersuchen muss.

In der Neurowissenschaft wäre es zum Beispiel nicht möglich gewesen, ganz ohne Verhaltensversuche wichtige Zellen zu entdecken, die für unsere räumliche Orientierung wichtig sind. Diese Zellen heißen „Gitterzellen“ (grid cells) und „Ortszellen“ (place cells), und für ihre Entdeckung wurde 2014 der Nobelpreis vergeben. Sie sind sehr wahrscheinlich bereits in den frühen Stadien der Alzheimer-Krankheit betroffen, und man hat sie bei Tierversuchen an Ratten entdeckt. Später wurden die Gitterzellen auch beim Menschen in anatomisch ähnlichen Strukturen identifiziert. Spezifisch geplante Tierversuche lassen also Rückschlüsse auf den Menschen zu. Viele synaptische oder zelluläre Mechanismen dieser Lernprozesse lassen sich heute sehr gut auch im isolierten Nervengewebe oder am Computer untersuchen, aber komplexes Lernverhalten kann man derzeit nur im Tierversuch studieren.

In dem Feld Replace spielen Computermodelle eine immer wichtigere Rolle. Was können diese computerbasierten Modellen leisten und wo sind ihre Grenzen? Können computerbasierte Modelle Tierversuche ersetzen? Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Prof. Dr. Peter Jedlicka ist Professor für Computerbasiertes Modelling im 3R-Tierschutz an der Justuts-Liebig-Universität in Gießen. Foto: Rolf K. Wegst

Prof. Jedlička: Die Stärke der Computermodelle liegt darin, dass man mit ihrer Hilfe selbst solche Parameter untersuchen kann, die ansonsten nur mit einer großen Zahl von Experimenten erfassbar wären. Die systematische Betrachtung dieser Parameter und ihrer Kombinationen im Computermodell erlaubt es, Vorhersagen über biologische Funktionen zu machen. Durch eine solche Simulation wird die Zahl der Möglichkeiten verringert, was unmittelbar auch zu einer Verringerung der Zahl der nötigen Experimente, zum Beispiel an einem Tier, führen kann. Darüber hinaus können Computersimulationen zur Entwicklung von neuen in-vitro-Modellen (z.B. organotypischen Zellkulturen) beitragen, da sie das komplexe Zusammenspiel von Zellen und ihren Molekülen beleuchten können.

In manchen Fällen können die Computermodelle die Tierversuche in der Vorhersagestärke sogar überholen oder ersetzen. Zum Beispiel ist es gelungen, datenbasierte Computermodelle erfolgreich einzusetzen, um die Wirkung verschiedener pharmakologischen Substanzen auf die Insulin-Sekretion im menschlichen Pankreas zu berechnen oder um beste Uhrzeit und Dosis der Insulingabe zu bestimmen. Das ist für Patienten mit Diabetes mellitus klinisch sehr wichtig. Ein weiteres Beispiel kann ich aus dem Bereich der Herzforschung erwähnen: Detaillierte Computermodelle, die auf der Basis von elektrophysiologischen Daten und Kalzium-Messungen aus menschlichen Herzmuskelzellen erstellt wurden, zeigten eine höhere Genauigkeit bei der Vorhersage von bestimmten Herzrhythmusstörungen als Tiermodelle. Dennoch haben auch Computermodelle ihre Grenzen.

Welche Alternativen gibt es zu Tierversuchen?

Wie ich angedeutet habe: Auf die Grenzen der Computermodelle stößt man, wenn man komplexe Phänomene auf multiplen zeitlichen und räumlichen Skalen sowie in unterschiedlichen Gewebstypen oder Organen simulieren will. Dann ist die enge Kopplung zwischen den in-vitro-, in-vivo- und in-silico-Verfahren sehr wichtig. Man kann sich das so vorstellen, dass man diese unterschiedlichen Methoden wiederholt verwendet und dadurch sich nicht im Kreis dreht, sondern sich wie auf einer Spirale zur erhöhten Effektivität und Aussagekraft der Computer- und Zellkulturmodelle fortschreitend bewegt. Die Variabilität der Zellen, Organen und Organismen stellt gleichzeitig eine Grenze, aber auch eine Herausforderung und Chance für computerbasierte Modelle dar. Wenn man diese natürliche Variabilität realistisch in eine Gruppe von unterschiedlichen Computermodellen implementiert, dann führt dies zur verbesserten Vorhersagestärke der Computersimulationen.

In der Zukunft wird man sehr wahrscheinlich die Anzahl der Tierversuche auch durch innovative Ersatzmethoden deutlich reduzieren können. Zum Beispiel gibt es Bemühungen, aus menschlichen iPS-Zellen (induzierten pluripotenten Stammzellen) verschiedene Gewebe oder Organe, oder besser gesagt Organoide (wie Miniherzen oder Minihirne) herzustellen. Sollten diese Ansätze erfolgreich sein, kann man sich vorstellen, dass man die Toxizität neuer Medikamente an menschlichen Zellen in solchen Organoiden sogar besser testen kann als im Tiermodell.

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