Die sogenannte Kinderdemenz NCL (Neuronale Ceroid Lipofuszinose) gehört zu den seltenen Erkrankungen. In Deutschland sind zurzeit etwa 500 Kinder von ihr betroffen. Prof. Rudolf Martini von der Universitätsklinik Würzburg erklärt im Interview mit Tierversuche verstehen, wie er Ursachen der Erkrankung sowie Therapieansätze erforscht und welchen Anteil am Fortschritt dabei Tierversuche haben.
Sie erforschen unter anderem die seltene Erkrankung Kinderdemenz NCL. Um was für eine Krankheit handelt es sich und was sind die Folgen für Betroffene?
Prof. Rudolf Martini: Die Kinderdemenz gehört zu den seltenen, genetisch bedingten Stoffwechselerkrankungen des Zentralnervensystems. Es gibt mehrere Formen davon, die sich klinisch meist durch ihren Beginn unterscheiden. Die häufigste Form zeigt sich durch eine plötzliche Verschlechterung der Sehleistung im 6. oder 7. Lebensjahr mit anschließender Erblindung. Gefolgt und begleitet wird das von schwer behandelbaren epileptischen Anfällen, motorischen Störungen – oft mit Rollstuhlpflichtigkeit – und nachlassenden geistigen Fähigkeiten. Nach einigen Jahren schlimmen Leidens – das schließt natürlich auch die pflegenden Eltern ein – sterben die Patienten. Meist werden sie keine 30 Jahre alt. Man sieht also, der Ausdruck “Kinderdemenz“ reflektiert nur partiell das gesamte traurige Spektrum dieser Krankheit.
Wie kann den betroffenen Patienten zurzeit geholfen werden?
Prof. Martini: Symptome wie Krampfanfälle oder Spastik lassen sich mit Medikamenten lindern, der Verlust der Sehkraft aber nicht. Da bei den später auftretenden Formen die Patienten bei Krankheitsbeginn meist schon älter sind, erleben sie den Verlust ihrer Fähigkeiten und ihre Isolation sehr bewusst mit. Dies führt häufig zu depressiven Stimmungen und Angstzuständen, was eine psychiatrische Betreuung erforderlich machen kann. Bei der Ernährung muss im Spätstadium der Krankheit oft eine Sonde zu Hilfe genommen werden. Die Möglichkeiten sind also sehr begrenzt. Einen großen Fortschritt gab es dagegen bei der Diagnostik: Früher wurden die Kinder oft fehldiagnostiziert und als reine Augenpatienten behandelt, bis man eben sah, dass mehr dahintersteckt.
Was muss noch besser erforscht werden?
Prof. Martini: Bei der häufigsten Form der Kinderdemenz zum Beispiel weiß man nur sehr wenig über die Funktion des Proteins, dessen zuständiges Gen mutiert ist. Das ist sicher ein Mangel, der das Verständnis der Krankheitsentstehung sehr begrenzt. Ganz wichtig ist, dass die Krankheitsmechanismen verstanden werden und hier spielen von uns entdeckte und möglicherweise behandelbare Entzündungsreaktionen eine entscheidende Rolle.
Wie gehen Sie bei Ihrer Forschung vor?
Prof. Martini: Die ersten Schritte sind in der Regel grundlagenwissenschaftliche Methoden und sorgfältige Beobachtungen. Dazu gehört auch die Entdeckung von möglicherweise aggressiven Immunzellen im Gehirn von Mausmodellen, deren Symptome denen der Kinderdemenz ähneln. Diese Entdeckung wurde unterstützt von Befunden in den Gehirnen verstorbener Patienten.
Welche Rolle spielen Tierversuche bei Ihrer Forschung?
Prof. Martini: Eine ganz zentrale Rolle. Um zu überprüfen, ob diese Immunzellen tatsächlich die Krankheit verschlimmern und ob sie medikamentös angreifbar sind, erschienen uns entsprechende Tierversuche ethisch und vor dem Gesetz vertretbar. Dieser Ansicht, dargelegt in Form von sehr aufwendigen Tierversuchsanträgen, folgten schließlich auch die überprüfenden Tierschutzkommissionen und Aufsichtsbehörden. Wir fanden dann tatsächlich heraus, dass das Immunsystem eine ganz wichtige, krankheitsverstärkende Rolle spielt. Der nächste Schritt war dann die medikamentöse Unterdrückung der Immunzellen. Das milderte das Krankheitsbild bei der Maus ganz deutlich. Die eingesetzten Medikamente wurden ursprünglich für die Multiple Sklerose (MS) entwickelt, die häufigste entzündungsgetriebene Erkrankung des zentralen Nervensystems.
Kritiker von Tierversuchen zweifeln an der Übertragbarkeit von Tierversuchen auf den Menschen. Wie würde Ihre Forschung funktionieren, wenn Sie auf das „Tiermodell“ verzichten würden?
Prof. Martini: Ohne Tiermodell wäre unsere Forschung nicht in das Stadium der Umsetzbarkeit gekommen, das wir jetzt erreicht haben. Stattdessen hätten wir zu einem viel zu frühen, ethisch nicht vertretbaren Zeitpunkt auf indiskutable „Menschenversuche“ ausweichen müssen. Mit den jetzt vorliegenden Erkenntnissen aus dem Tierversuch ist es nun nach Ansicht vieler ärztlicher Kollegen legitim, betroffene Kinder im Rahmen eines individuellen Heilversuches mit den verfügbaren MS-Medikamenten zu behandeln, besonders hinsichtlich der trostlosen Prognose ohne eine solche Intervention. Voraussetzung ist eine sehr sorgfältige Aufklärung der Patienten bzw. deren Eltern durch den behandelnden Arzt, denn solche Medikamente haben Nebenwirkungen.
Was könnte die Entwicklung eines Heilmittels beschleunigen? Welche Hemmnisse stehen der Entwicklung im Wege?
Prof. Martini: Im Falle der Kinderdemenzen haben wir es mit der Schwierigkeit zu tun, dass es sich um seltene Erkrankungen handelt. Daher gibt es nur verhältnismäßig wenige Patienten und somit einen geringen Anreiz, um Medikamente zu entwickeln – vor allem, wenn man die immensen Entwicklungskosten in Betracht zieht. Wir müssen zugeben, dass oft auch die Wissenschaft selbst wenig Interesse an den seltenen Erkrankungen zeigt. Jedoch können wir aus diesen Krankheiten Mechanismen lernen, die auf die häufigen, ursächlich komplexeren Erkrankungen wie Altersdemenz übertragbar sind. Die seltenen Krankheiten sind meist genetisch, d.h. durch Mutation eines oder sehr weniger Gene bedingt, was Versuche zu den Krankheitsmechanismen viel leichter möglich macht als bei komplexen Krankheitsmodellen. Da liegt eine Chance für die Seltenen und für die beschleunigte Entwicklung von Medikamenten. Gut geplante Tierexperimente sind bei der Überprüfung der Medikamente im Gesamtorganismus dann unverzichtbar.