Faktencheck-Reihe:
„Sind 92 % der Tierversuche
nicht übertragbar?“

Nicht alle Tierversuche sind gleichwertig auf den Menschen übertragbar und führen am Ende zur Entwicklung neuer Therapien. Als Gründe hierfür werden oftmals fehlende Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier, Zahlen oder Statistiken genannt. Die Initiative Tierversuche verstehen prüft in der „Faktencheck-Reihe“ vier Behauptungen zur Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Tierversuchen auf ihre Stichhaltigkeit.

Behauptung 3:

„92% der Tierversuche sind nicht übertragbar?“ 

„92% der Tierversuche sind nicht übertragbar!“ – oft liest man auch Variationen davon, etwa „9 von 10 Tierversuchen sind nicht übertragbar“. Diese auch als „Durchfallquote“ bezeichnete Zahl ist je nach zitierter Studie variabel, liegt jedoch meist um 90%. Richtig ist bei dieser Aussage, dass tatsächlich ungefähr 92% der in Tierversuchen getesteten neuen Medikamente nie für Menschen zugelassen werden. Die Zahl stammt aus mehreren unabhängigen Studien, die den Erfolg der drei klinischen Phasen (I-III) einer Medikamentenentwicklung untersucht haben. Diese Zahl ist allerdings kein Maß dafür, wie gut sich Ergebnisse aus Tierversuchen auf Menschen übertragen lassen, denn bei der Berechnung werden wichtige Gründe und Hintergrundinformationen außer Acht gelassen, die für das Scheitern neuer Wirkstoffe verantwortlich sind:

1. Die Erfolgsquote der Phase I in der Medikamentenentwicklung liegt bei rund 65%. Die meisten Kandidaten scheitern demnach in Phase II oder Phase III. Dies zumeist deshalb, weil sie innerhalb einer größeren, heterogenen Gruppe von Patienten statistisch nicht besser wirken als ein Placebo. Ein weiterer Grund kann eine schlechte Bioverfügbarkeit sein – das bedeutet, dass nur ein geringer Anteil der verabreichenden Arzneimitteldosis unverändert in die Blutbahn gelangt. Auch die Prozesse, denen das Medikament im Körper unterliegt (genannt Pharmakokinetik/ADME), können ein Grund für das Scheitern neuer Medikamente sein. Selbst nach erbrachtem Beweis für Wirksamkeit und Sicherheit für Menschen in Phase III erhalten laut dieser Studie nur 83% der Substanzen auch tatsächlich eine Zulassung.

2. Häufig sind wirtschaftliche und firmenpolitische Faktoren ein Grund dafür, dass aussichtsreiche Wirkstoffe erst gar nicht in die klinische Prüfung gelangen, denn diese stellt den teuersten Schritt in der Entwicklung neuer Medikamente dar. Sind die späteren Markt-Prognosen des Medikaments nicht zufriedenstellend, wird eine klinische Studie deshalb möglicherweise nicht weiterverfolgt, obwohl die ersten Forschungsergebnisse positiv sind. Selbst aussichtsreiche Ergebnisse in der klinischen Studie müssen aufgrund von wirtschaftlichen oder strategischen Faktoren kein Garant dafür sein, dass das Medikament tatsächlich eine Marktzulassung erhält.

3. Gesetzlich vorgeschriebene Tierversuche an mindestens zwei verschiedenen Tierarten sind jeder klinischen Studie vorgeschaltet, um das Risiko von ungeahnten Nebenwirkungen für die Testpersonen in der Phase I zu minimieren. So die Theorie. Wie sieht es in der Praxis aus? Um diese Frage zu beantworten, müssen zunächst die Probleme überprüft werden, die bei der Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Tierversuchen auftreten können:

Fall Giftig im Tierversuch Giftig bei Menschen Ergebnis/Kommentar
A ja ja übertragbar
B nein nein übertragbar
C ja nein falsch positiv: unnötig aussortiert
D nein ja falsch negativ: Risiko für Menschen

Kreuztabelle mit möglichen Problemen bei der Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Tierversuchen auf Menschen bei der Giftigkeitsprüfung neuer Wirkstoffe.

Das Vorkommen der Kombinationen A und C lässt sich dabei kaum in Zahlen fassen, da es wohl nur in Ausnahmefällen tatsächlich zu Versuchen an Menschen kommt, wenn Tierversuche auf ein hohes Risiko für die Versuchspersonen schließen lassen.

Kritisch ist jedoch vor allem die Kombination D, die aufgrund unerkannter Unterschiede zwischen Mensch und den getesteten Tierarten, Testpersonen in Gefahr bringt, nachdem auch alle anderen Methoden keine Hinweise auf eine drohende Gefahr gegeben haben. Dass dieser Fall äußerst selten eintritt, erkennt man daran, wie selten es weltweit zu schwerwiegenden Schädigungen von Phase-I-Probanden kommt. Da es sich bei allen Testmethoden um Modelle handelt, besteht bei jeder dieser Methoden die Gefahr, dass Wirkstoffkandidaten falsch positiv oder falsch negativ bewertet werden. Daher müssen immer alle zur Verfügung stehenden Daten und Methoden ausgeschöpft werden, auch in einer Kombination, um das Risiko für die Teilnehmer der klinischen Studien zu minimieren. Tierversuche werden erst ganz am Ende dieses Prozesses eingesetzt und spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Die Kombinationen A und B stellen also aller Wahrscheinlichkeit nach den Regelfall dar. Das bedeutet, dass Tierversuche – zusammen mit anderen Methoden in der präklinischen Forschung – ganz wesentlich zur Sicherheit von Versuchspersonen und Patienten beitragen. Die Entwicklung weiterer, verlässlicher, tierfreier präklinischer Tests, die gleichwertige oder noch bessere Übertragbarkeit liefern, könnten die Sicherheit weiter erhöhen.

4. In klinischen Tests mit mehreren Tausend Testpersonen und Patienten kommt man dem individuellen Organismus eines Patienten so nah wie mit keiner anderen heutigen Methode – und dennoch scheitert das „Modell Mensch“ offenbar im gleichen Umfang wie alle anderen Modelle. Dass so viele neue Medikamente nicht zugelassen werden, liegt demnach auch an der Schwierigkeit, sowohl sichere, als auch für viele unterschiedliche Menschen verlässliche Therapien bereit zu stellen.

5. Es gibt tatsächlich den Befund, dass trotz jahrelanger intensiver Forschung gegen bestimmte Krankheiten nur wenig konkrete Ergebnisse vorliegen. Die Translation, also die Übertragung, von Ergebnissen aus der Forschung in den klinischen Alltag ist oft kompliziert und langwierig. Außerdem zeigen sich bei der Übertragung auch die Grenzen von Tiermodellen, denn diese bilden immer nur einen Teil der Symptome oder Krankheitsmechanismen nach. Um bei der Auswahl von Tiermodellen in Zukunft noch besser zu werden, müssen neue Methoden her, um eine bestmögliche Übertragbarkeit zu erreichen.

6. Eine Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Tierversuchen ist möglich und hat sich bewährt. Viele einst tödliche Krankheiten haben ihren Schrecken verloren, ihre Behandlung kommt uns heute selbstverständlich vor. Woran die wenigsten denken: Fast alle grundlegenden Fortschritte in der Medizin beruhen auf Ergebnissen, die zuvor durch Tierversuche erzielt worden sind. Das gilt sowohl für Impfstoffe gegen zahlreiche Infektionskrankheiten als auch für Medikamente wie Antibiotika, deren Siegeszug in der Medizin mit dem Penicillin begann. Das gilt aber genauso für das Hormon Insulin, mit dem an Diabetes leidenden Menschen erstmals grundlegend geholfen werden konnte; und es gilt für die Chirurgie und Medizintechnik.

7. Unzureichende Übertragbarkeit spricht aber nicht gegen die Qualität medizinischer und biomedizinischer Forschung, sondern ist eine unvermeidbare Herausforderung, der sich Forscher bewusst sind. Forschung bewegt sich im Unbekannten und hat deshalb eine geringere Erfolgsquote. Allerdings helfen Fehlschläge für die weitere Forschung, um beispielsweise Zusammenhänge besser zu verstehen. Tierversuche liefern also dennoch wichtige Einsichten in Krankheitsprozesse, die nicht anderweitig gewonnen werden können. Wissenschaftler sind sich dem ethischen Dilemma dabei stets bewusst, dass sie das Wohl des Menschen über das des Tieres stellen.

Weitere Beiträge, in denen die Initiative andere Behauptungen auf Stichhaltigkeit prüft und die Bedeutung von Ergebnissen aus Tierversuchen für die Humanmedizin beleuchtet, finden Sie hier.

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