Deutschland hat 2021 sein Tierschutzgesetz (TierSchG) weiter an die europäischen Formulierungen/Regeln im Tierschutzrecht angeglichen. Die Rechtswissenschaftler Prof. Klaus Gärditz von der Universität Bonn und Prof. Matthias Dombert von der Universität Potsdam erläutern in einem Gastbeitrag für Tierversuche verstehen, warum eine solche Harmonisierung in Deutschland schwierig ist.
Die EU-Kommission hatte zuvor Details der Umsetzung der „EU-Richtlinie 2010/63 zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere“ bemängelt. Die Richtlinie dient dazu, einheitliche Bedingungen für Forschende in Europa zu schaffen – auch im Hinblick auf die Durchführung von Tierversuchen. Für die Umsetzung der Richtlinie sind die einzelnen EU-Staaten verantwortlich, in denen jedoch unterschiedliche Rahmenbedingungen und Spielräume vorherrschen. Auch für die Genehmigung von Tierversuchen in Deutschland liegt die Auslegung des Tierschutzgesetzes bei den zuständigen Behörden in den einzelnen Bundesländern. Sie entscheiden somit auch, ob ein Versuch genehmigt wird oder nicht. Doch wie schafft man bei einer solchen Vielzahl an zuständigen Behörden eine einheitliche und rechtssichere Umsetzung der neuen Regelungen? Wertvolle Hilfestellung könnte laut Gärditz und Dombert der sogenannte Nationale Ausschuss leisten. Dieser ist beim Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) angesiedelt und soll zuständige Behörden und Gremien in Tierversuchsangelegenheiten beraten. Der Nationale Ausschuss besitze zwar die nötige Sachkunde, jedoch reiche die personelle Ausstattung momentan nicht aus, um dieser Aufgabe gerecht zu werden, schreiben die beiden Rechtswissenschaftler in ihrem Gastbeitrag:
Gastbeitrag von Klaus F. Gärditz und Matthias Dombert:
Deutscher Föderalismus und Tierversuchsrecht der EU:
Stärkt den Nationalen Ausschuss!
Der rechtliche Ausgangspunkt ist schnell beschrieben. Eine Richtlinie der EU ist ein Rechtsakt, der gesellschaftspolitische Ziele definiert, die in den Mitgliedsstaaten erreicht werden sollen. Die EU definiert das Ziel, es bleibt jedoch Sache der einzelnen Länder, eigene Rechtsvorschriften zur Verwirklichung dieses Ziels zu erlassen. Für das Recht der Tierversuche gilt nichts anderes. Die „Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union“ legt die Maßnahmen zum Schutz von Tieren fest, die zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet werden. Hierzu formuliert sie Vorgaben zur Vermeidung und Verminderung der Verwendung von Tierversuchen oder verlangt eine Verbesserung der Bedingungen für die Zucht, die Unterbringung oder Verwendung von Versuchstieren: die Umsetzung dieses Ziels ist dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten.
Schon dies schafft einen nationalen Flickenteppich. Zwar haben alle Mitgliedsstaaten ihre nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie geändert, diese Änderungen sind jedoch sehr unterschiedlich ausgefallen. Der EU ist dies nicht verborgen geblieben. Der Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Durchführung der Tierversuchsrichtlinie vom 5.2.2020 weist darauf hin, dass die Berichte der Mitgliedsstaaten über die Anwendung der Richtlinie sich in „Inhalt und Qualität“ so unterscheiden würden, dass die „uneinheitliche Qualität der Berichte“ es schwierig mache, „Folgerungen auf EU-Ebene zu ziehen“.
Bundesländer legen Tierschutzgesetz aus
Dabei ist die Sache aus Sicht der Europäischen Kommission zunächst noch recht einfach. Verpflichteter ist der jeweilige Mitgliedsstaat, aus deutscher Sicht also die Bundesrepublik, die ihrem Regelungsauftrag mit dem Tierschutzgesetz des Bundes nachgekommen ist, und zuletzt mit Wirkung zum 1.12.2021 Anpassungen an den europäischen Rechtsrahmen vorgenommen hat. Soweit, so gut? Berlin locuta, causa finita? Wer so denkt, hat den deutschen Föderalismus nicht mitbedacht. Denn es ist Sache der Bundesländer, das Tierschutzgesetz des Bundes anzuwenden. Und das bedeutet im besten Falle harmonische Vielfalt, im Regelfall unübersichtliche Zersplitterung. Denn über die Auslegung des Tierschutzgesetz – und damit über die Konkretisierung des Europäischen Unionsrechts in der Bundesrepublik – entscheiden in Deutschland die Behörden von 16 Bundesländern.
Der angesprochene Bericht der Europäischen Kommission hält fest, dass für die Genehmigung eines Tierversuchs in Deutschland 26 unterschiedliche Behörden zuständig sind, für Inspektionen 285 Behörden. Die Schlussfolgerung für die EU: „Anerkanntermaßen ist es umso schwieriger, einen kohärenten Ansatz und ein einheitliches Ergebnis zu gewährleisten, je mehr zuständige Behörden in einem Mitgliedsstaat an der Durchführung der Richtlinie beteiligt sind“. Frankreich, Niederlande, Estland und Finnland haben es besser. Denn da entscheidet nur eine einzige Behörde über die Genehmigung des Tierversuchs. Das ist ein nicht zu unterschätzender Befund: effektiv und voraussehbar arbeitende Behörden bedeuten im internationalen Wettbewerb auch für Forscher einen Standortvorteil. Im Übrigen lässt sich so anspruchsvolles wissenschaftsspezifisches Fachwissen bündeln, das nicht in jeder mit Tierschutzaufgaben betrauten Behörde hinreichend vorhanden ist.
Forschende sollen Umweltauswirkungen ermitteln
Die Folgen des deutschen Föderalismus können dann abgemildert werden, wenn über die Bundesländer hinweg für einen einheitlichen Verwaltungsvollzug gesorgt wäre. Dies ist aber nicht der Fall – eine Tatsache, der man sich dann schmerzlich bewusst wird, wenn die Genehmigungsbehörden dem Wissenschaftler neue Antragsformulare vorlegen, mit denen – dem Europäischen Unionsrecht geschuldete – Gesetzesänderungen umgesetzt werden sollen. In der Bundesrepublik wird der Wissenschaftler in diesen neuen Antragsformularen seit dem 1.12.2021 danach gefragt, „wie die Belange der Umwelt berücksichtigt werden sollen“, er muss zudem Angaben „zur statistischen Gestaltung zur Minimierung der Auswirkung auf die Umwelt“ liefern: ohne diese Darlegung keine Genehmigung!
Gegen diese inhaltlichen Vorgaben wäre nichts einzuwenden, wenn klar wäre, welche Antwortstruktur sich der Normgeber selbst vorgestellt hat. Das bleibt jedoch opak und ist für Forscher wie für die Behörde gleichermaßen schwierig zu ermitteln. Beide sitzen insoweit im gleichen Boot. Lässt sich zu den Darlegungsanforderungen weder nationalen noch europäischen Rechtssetzungsmaterialien entnehmen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als mit Blick auf die interpretatorische Zurückhaltung des Normgebers gemeinsam nach pragmatischen Anwendungskriterien zu suchen. Das ist bislang eher ein muddling through (deutsch: Sich-Durchwurschteln).
Nationaler Ausschuss kann wertvolle Hilfestellung leisten
Immerhin gibt es auch in Deutschland den europarechtlich vorgeschriebenen Nationalen Ausschuss. Er soll die zuständigen Behörden und Gremien in Tierversuchsangelegenheiten beraten. Er soll zudem den „Austausch bewährter Praktiken“ gewährleisten. So gedacht kann der Nationale Ausschuss in der Tat eine Institution sein, die gerade dann, wenn es um die erstmalige Anwendung neuer Regelungen der Praxis geht, für alle Bundesländer wertvolle Hilfestellung leistet. Dies freilich setzt voraus, dass dieser Nationale Ausschuss – der in Deutschland beim Bundesinstitut für Risikobewertung angesiedelt ist – dazu personell in der Lage ist.
Wissenschaftlicher Erfolg und effektiver Tierschutz brauchen Rechtssicherheit
Dies erfordert eine entsprechende Zahl von Mitarbeitern. Und hier liegt für die Bundesrepublik einiges im Argen. Denn gerade wegen der unzweifelhaft vorhandenen Sachkunde beschränkt die personelle Ausstattung für Antragsteller wie für Behörden die so dringend benötigte Hilfestellung. Hilfestellung bedeutet im konkreten Fall nicht nur, aber auch: juristische Expertise durch interpretatorische Unterstützung. Es geht darum, Rechtssicherheit durch Auslegungshilfe zu ermöglichen. Von dieser Rechtssicherheit hängt nicht nur der wissenschaftliche Erfolg des Landes, sondern auch die Effektivität des Tierschutzes ab. Will man in Deutschland die Folgen des föderalen Systems für einen einheitlichen Gesetzesvollzug abmildern, kann die Forderung nur lauten: Stärkt den Nationalen Ausschuss!