Wie schafft es das Gehirn, komplexe Kommunikation zwischen Artgenossen zu ermöglichen? Dieser Frage geht die Neurobiologin Dr. Daniela Vallentin am Beispiel der virtuosen Gesänge von Nachtigallen nach. Gemeinsam mit ihrer Arbeitsgruppe möchte Sie mit Hilfe der Singvögel die neuronalen Grundlagen für die interaktive Gesangsproduktion im Gehirn besser verstehen.
Ursprünglich sollte das durch den renommierten Europäischen Forschungsrat ERC ausgezeichnete, mit 1,5 Millionen Euro geförderte Projekt an der Freien Universität in Berlin durchgeführt werden. Doch es wurde dort schnell zum Politikum. In der Folge wurden Daniela Vallentin und ihre Arbeitsgruppe Zielscheibe von extremen Tierversuchsgegnern und Internetkampagnen und mussten sogar Personenschutz in Anspruch nehmen. Seit 2019 arbeitet die Neurobiologin am Max-Planck-Institut für Ornithologie im bayrischen Seewiesen und setzt dort ihr Forschungsprojekt um.
Im Interview erläutert die junge Wissenschaftlerin die Hintergründe und die praktische Umsetzung des Forschungsvorhabens und spricht darüber, wie sie mit der öffentlichen Kritik daran umgeht.
Was begeistert Sie an Ihrer Forschung?
Dr. Daniela Vallentin: Egal ob wir Fahrrad fahren, sprechen, uns die Schuhe binden oder eine Melodie pfeifen – viele solcher alltäglichen Tätigkeiten erscheinen uns selbstverständlich und mühelos. Dass die dafür notwendigen motorischen Abläufe aber erst einmal mühevoll und mit viel Übung erlernt werden müssen, bevor sie quasi zum Selbstläufer werden, ist umso faszinierender. Wie lernen wir solche Bewegungsabläufe? Und wie verändert sich unser Gehirn, damit wir das eben Gelernte auch dauerhaft behalten und umsetzen können? Diese Fragen begeistern mich und treiben meine Forschungsarbeit an.
Außerdem möchte ich gerne besser verstehen wie es uns gelingt, mit Worten, also genaugenommen mit Lauten, zu kommunizieren. Denken Sie einfach an die letzte gute Unterhaltung, die Sie hatten. Dabei haben Sie vermutlich Ihrem Gegenüber zugehört und sich gleichzeitig auch schon eine Antwort ausgedacht, mit der Sie nur wenige hundert Millisekunden später reagiert haben. Wenn Sie nicht ganz einer Meinung waren, sind Sie sich möglicherweise sogar ins Wort gefallen. Und so selbstverständlich Ihnen dies in dem Moment auch erscheint, stellt diese Fähigkeit eine unglaublich komplexe Gehirnleistung dar. Leider wissen wir bislang aber nur sehr wenig darüber, wie unser Gehirn diese sogenannte vokale Kommunikation, also die Fähigkeit zuzuhören und gezielt auf das soeben Gehörte zu reagieren, steuert.
Warum Nachtigallen?
Vallentin: Nachtigallen werden generell für ihren schönen Gesang gepriesen, vor allem die Tatsache, dass sie im Frühjahr fast rund um die Uhr so unerlässlich singen, fasziniert viele Menschen. Die eigentliche Meisterleistung liegt jedoch ganz wo anders: die Männchen singen nicht nur drauf los, sondern interagieren miteinander, ganz ähnlich einer menschlichen Unterhaltung. Männliche Nachtigallen haben ein Repertoire von bis zu 200 unterschiedlichen Strophen, die im Wechsel je nach Bedarf kombiniert und gesungen werden können. Dies geschieht jedoch nicht willkürlich wie bei vielen anderen Singvogelarten. Die Sänger hören dem Nachbarn – auch während sie selber singen – aufmerksam zu und bauen den soeben gehörten Gesang des Artgenossen in den eigenen Gesang ein – oder versuchen sogar, es „besser zu machen“. Obwohl dieses Phänomen an sich schon lange bekannt ist, war meine Arbeitsgruppe zu Beginn dieses Projekts so beeindruckt von diesem Verhalten, dass wir uns viele Nächte um die Ohren geschlagen haben, um den Nachtigallen in ihrer natürlichen Umgebung zuzuhören, sie aufzunehmen und ihre „Unterhaltungen“ so besser zu verstehen.
Was gab es für Probleme?
Vallentin: Um das Projekt zu starten und unsere eigene Zucht in Berlin aufzubauen hatten wir beantragt, junge Nachtigallen aus der Natur zu entnehmen, wie es von unseren Vorgängern an der FU Berlin schon Jahre lang für andere Projekte – natürlich mit der entsprechenden Genehmigung – praktiziert wurde. Unser Antrag wurde diesmal jedoch nicht genehmigt, daher mussten wir uns eine Alternative überlegen. Nach intensiver Suche konnten wir letztendlich einige Nachtigallenzüchter finden, die bereit waren, uns Ihren Nachwuchs zu überlassen, so dass wir nun selbst mit dem Züchten beginnen konnten – die hierfür notwendige Haltungsgenehmigung hatten wir selbstverständlich schon vorab beantragt und auch erhalten. Allerdings gab es mittlerweile leider erhebliche Probleme mit extremen Tierversuchsgegnern in Berlin, unter anderem, da die beantragte Entnahme aus der Natur mit den eigentlichen Versuchen verwechselt wurde. Nur eigens für die Versuche von uns gezüchtete Tiere sollten für unsere Experimente verwendet werden, nicht etwa wilde Tiere, wie es regelmäßig behauptet wurde. Generell ist die von uns geplante Anzahl von sieben Versuchstieren pro Jahr an sich relativ gering, es wurde im Antrag sogar von uns angeboten, mögliche überzählig gezüchtete Tiere an andere Züchter weiterzugeben oder zur Auswilderung zur Verfügung zu stellen. Eine Bedrohung der natürlichen Nachtigallenpopulation hat unser Projekt also zu keinem Zeitpunkt dargestellt, eher das Gegenteil.
Zur Zielscheibe der Emotionen wurden wir nicht etwa durch einen Skandal oder die Durchführung ungenehmigter Versuche, sondern rein aufgrund der Tatsache, dass wir mit der Nachtigall arbeiten wollen. Wie gesagt, haben wir uns dieses faszinierende Tier aber natürlich nicht willkürlich, sondern aus gutem Grund für unsere Forschung ausgesucht.
Wenn es um Tierversuche im Allgemeinen geht, überrascht mich der Widerstand nicht und ich kann diesen auch zum Teil nachvollziehen. Tierversuche werden trotz ihrer strengen Regulierung immer kritisch diskutiert, und das ist auch in Ordnung. Was mich aber doch sehr überrascht hat ist die Unverhältnismäßigkeit, mit der Organisationen der Größenordnung des Berliner Tierschutzvereins einzelne Personen, und zwar ohne diesen die Möglichkeit zur Stellungnahme zu bieten, angreifen. Eine gegen uns gerichtete Online-Petition beispielsweise enthält zwar keine Namen oder Emailadressen, dass diese jedoch in Kommentaren schnell ergänzt und somit für jedermann zugänglich waren, war absehbar und hat leider zu massiven persönlichen Drohungen gegen mich und meine Arbeitsgruppe geführt. Dies ging soweit, dass im letzten Jahr sogar für mehrere Wochen 24h Personenschutz notwendig wurde, um meine Sicherheit und die meiner Mitarbeiter zu gewährleisten.
Was wollen Sie genau erforschen?
Vallentin: Mit Hilfe von Singvögeln möchten meine Arbeitsgruppe und ich die komplizierten neuronalen Grundlagen besser erklären, die für das Gesangslernen und die Gesangsproduktion notwendig sind.
Vom menschlichen Gehirn wissen wir, dass der sogenannte prämotorische Kortex, eine Gehirnregion, die auch das menschliche Sprachzentrum umfasst, notwendig ist, um Sprache zu produzieren. Wie genau einzelne Nervenzellen und Gehirnbereiche hierfür zusammenspielen, ist bisher jedoch weitgehend unbekannt.
Im Vogelgehirn gibt es eine Struktur, die mit dem menschlichen Sprachzentrum funktionell vergleichbar ist: den sogenannten prämotorischen Nukleus HVC. Erst kürzlich ergab zum Beispiel eine Studie, dass Vögel langsamer singen, wenn man diese Gehirnregion gezielt abkühlt. Die exakt gleiche Studie konnte an Menschen – Patienten mit geplanten Gehirnoperationen, die sich freiwillig für diese Tests zur Verfügung gestellt haben – durchgeführt werden, und zwar mit genau demselben Ergebnis: eine Abkühlung des Sprachzentrums führt zur unbewussten Verlangsamung der Sprache!
Dies ist eins der vielen Indizien dafür, dass die grundlegenden neuronalen Schaltkreise beim Vogel und beim Menschen ähnlich funktionieren. Natürlich funktioniert ein Vogelgehirn nicht in allen Aspekten genau wie ein Säugetiergehirn und ein beliebiges Säugetiergehirn auch nicht exakt wie das menschliche Gehirn. Allerdings sind die Grundbausteine, also die einzelnen Nervenzellen, die chemischen Botenstoffe und die Synapsen, mit deren Hilfe neuronale Netzwerke geformt werden, weitestgehend gleich. Wenn man es also schafft, einen Prozess wie das Gesangslernen von Vögeln im Detail, quasi „auf der Ebene einzelner Nervenzellen“, zu verstehen, kann man daraus sehr wohl bestimmte Rückschlüsse auf andere Tierarten und somit eben auch auf den Menschen ziehen.
Gerade weil aber dieses Zusammenspiel von einzelnen Nervenzellen und Gehirnregionen so komplex ist und weil wir uns nicht nur dafür interessieren, was die einzelnen Nervenzellen an sich tun, sondern welche Auswirkung ihre Aktivität auf das ganze System und letztendlich auch auf das Verhalten des Tieres hat, sind wir bislang noch auf die „invasive“ Forschung, also die Forschung am lebenden Tier, angewiesen. Allerdings bedeutet dies auch, dass wir brauchbare Ergebnisse nur dann erzielen können, wenn die Tiere sich während der Experimente so normal wie möglich verhalten. Dies gelingt nur, wenn es den Versuchstieren gut geht. Daher sind wir auch konstant darum bemüht, unsere Methoden zu optimieren und die Experimente so wenig invasiv und unangenehm wie möglich für die Tiere zu gestalten. Dies entspricht ja auch dem 3R-Prinzip, insbesondere dem Refinement.
Wie sehen diese Experimente dann genau aus?
Vallentin: Nach dem Schlupf der jungen Nachtigallen werden die Jungtiere von uns mit der Hand aufgezogen. Während der Lernphase, also innerhalb der ersten paar Wochen nach Schlupf, spielen wir den Tieren dann speziell ausgewählten arteigenen Gesang vor, den wir vorher aufgenommen haben. So erlernen die Tiere ein ganz bestimmtes Gesangsrepertoire, das wir genau festlegen. So wissen wir, was die Tiere kennen und können und was nicht. Nach etwa einem Jahr, wenn die Tiere mit Erreichen des fortpflanzungsfähigen Alters beginnen, aktiv zu singen, wird bei einem kurzen Eingriff am betäubten Tier ein sogenannter Microdrive am Kopf des Tiers befestigt. Das ist ein winziges Gerät, dass mit 1,6 Gramm weniger als eine 1-Cent Münze wiegt. Eine einfache Hochrechnung des Gewichts auf menschliche Verhältnisse, wie es einige Tierversuchsgegner getan haben, ist hier übrigens nicht hilfreich: Ameisen können zum Beispiel ohne Probleme ein vielfaches ihres Körpergewichts tragen. Die Microdrive-Geräte wurden sogar für deutlich kleinere Vögel wie Zebrafinken entwickelt und können auch von den Nachtigallen problemlos getragen werden, ohne ihre Bewegungsfreiheit oder ihr Verhalten einzuschränken.
Über eine mikroskopisch kleine Öffnung in der Schädeldecke unterhalb des Microdrive kann später ferngesteuert eine hauchdünne Elektrode eingeführt und so die Aktivität einzelner Nervenzellen gemessen werden, während die Nachtigall mit Artgenossen interagiert und auch selbst singt. Solch ein natürliches Verhalten setzt ein sehr hohes Wohlergehen des Tiers voraus. Das Einführen dieser Elektroden, die 50-mal dünner sind als ein menschliches Haar, ist vollkommen schmerzfrei für die Tiere, da sich im Gehirn selbst keine Schmerzrezeptoren befinden. Die Haut, die zum Anbringen des Microdrive geöffnet wurde, heilt nach der OP zügig ab, dieser Prozess findet unter Gabe von Schmerzmitteln und ständiger Beobachtung statt, genau wie nach einer OP am Menschen auch.
Typischerweise bleiben die Tiere für ein paar Tage im Experiment. Nach Abschluss der Messungen wird das Microdrive dann während einer kurzen Narkose wieder entfernt, die mikroskopische Öffnung im Schädelknochen wird versiegelt und die Haut darüber wird wieder geschlossen. So können die Tiere nach einem kurzen Heilungsprozess weiterhin schmerz- und komplikationsfrei leben; sie gehen als Zuchttiere wieder in die Haltung über.
Was ist genehmigt?
Vallentin: Das komplette Experiment wurde vor Beginn sowohl von der Regierung in Berlin als auch von der Regierung Oberbayern genehmigt. Bei solchen Genehmigungen werden grundsätzlich alle chirurgischen Eingriffe unter Vollnarkose gemäß EU Richtlinie 2010/63/EU, Annex VIII, als mittlere Belastung eingestuft, auch wenn sie durch ein kontinuierliches Schmerzmanagement als nach menschlichem Ermessen so gut wie schmerzfrei angesehen werden. Die experimentellen Messungen selbst erfolgen am wachen Vogel und müssen als gering belastend beantragt werden, auch wenn wir wie gesagt nicht erwarten, dass die Vögel durch das Gerät und die Messungen beeinträchtigt werden. Natürlich haben wir zusätzlich zur Genehmigung der Experimente an sich auch Haltungs- sowie Zuchtgenehmigungen für unsere Nachtigallen und stehen im ständigen Austausch mit Behörden und Beratern, um die Lebens- und Versuchsbedingungen weiter zu optimieren.
Unter welchen Bedingungen werden die Nachtigallen denn gehalten?
Vallentin: Momentan gibt es am Institut 12 Nachtigallen, die in großzügigen Außenvolieren in speziellen Brutpaarabteilen (2m x 4m) gehalten werden. Die Volieren sind in enger Zusammenarbeit und Absprache mit erfahrenen Züchtern so naturnah wie möglich eingerichtet. Den Tieren stehen in den von drei Seitenwänden und durch ein lichtdurchlässiges Dach wettergeschützten Abteilen bei niedrigen Temperaturen Wärmelampen sowie beheiztes Wasser zur Verfügung, das auch gerne zum Baden genutzt wird. Unterschiedlichste Sitz-, Brut- und Versteckmöglichkeiten sowie ausreichend Platz, um ungehindert zu fliegen sind ebenfalls vorhanden. Die Volieren sind mit vielen verschiedenen Pflanzen, die in der natürlichen Umgebung der Nachtigallen vorkommen, ausgestattet, auch die besondere und für uns manchmal etwas unangenehme Vorliebe der Tiere für Brennnesseln wird berücksichtigt. Eine ausgewogene Kost aus Obst, Gemüse, speziellem Futter für Weichfresser sowie ein reiches Angebot an unterschiedlichen Insekten wie Mehlwürmern, Ameisen und Heimchen stehen ständig zur Verfügung. Durch die teilweise nach außen offenen Volieren kommen aber auch immer wieder wilde Insekten vorbei und werden ebenfalls – ganz wie in der Natur – gerne gejagt und gefressen.
Die Tiere werden täglich von den speziell ausgebildeten Tierpflegern und uns selbst in Augenschein genommen, außerdem gibt es am Institut zwei Tierschutzbeauftragte – darunter auch eine Tierärztin – die die Tiere und deren Haltung mindestens vierteljährlich kontrollieren. Bei Bedarf kann die Tierärztin natürlich auch jederzeit hinzugezogen werden, um die Gesundheit der Tiere zu überprüfen und gegebenenfalls zu behandeln. Behördliche Kontrollbesuche finden üblicherweise zwei Mal im Jahr statt, natürlich auch unangekündigt.
Was ist das Ziel der Forschung?
Vallentin: Bei unserer Arbeit handelt es sich um Grundlagenforschung. Unser Ziel ist es zu verstehen, wie das komplexe Zusammenspiel der Nervenzellen im Gehirn die vokale Kommunikation ermöglicht. Ob hier später Rückschlüsse auf neurobiologische Prozesse beim Menschen zu erwarten sind, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgeschätzt werden. Das sogenannte ‚Vocal turn taking‘, also das Kommunizieren im Wechsel, ist jedenfalls unter anderem bei autistischen Kindern beeinträchtigt. Woran das liegt, ist bislang jedoch weitgehend unbekannt. Ein Beitrag zum besseren Verständnis der neuronalen Grundlagen eines funktionierenden Wechselgesangs ist so natürlich auch in diesem Hinblick wünschenswert, obwohl er nicht das erklärte Ziel unserer Forschung ist.