Tierversuche und Ethik (Druckversion)

Jede Art von Forschung sollte ethisch reflektiert und gerechtfertigt sein. Dies ist ganz besonders unerlässlich bei Forschungen an Menschen oder Tieren. Vor allem die biomedizinische Grundlagenforschung steht im Fokus ethischer Überlegungen. Hier sind die Verhältnisse schwerer zu bewerten, weil kein unmittelbarer Nutzen direkt gegen die Belastungen von Tieren gewogen werden kann. Ihr konkreter späterer Nutzen ist praktisch nie vorhersagbar. Dennoch ist sie wichtig: Alle heutigen Errungenschaften der Medizin beruhen auf Grundlagenforschung.

 

Für die ethischen Überlegungen sind verschiedene Fragen zu beantworten: Welchen Wert besitzen Tiere im Vergleich zum Menschen? In welchem Maße und zu welchem Zweck sind Schmerzen und andere Leiden sowie Schäden und Ängste von Versuchstieren zu vertreten? Sind die Interessen und Bedürfnisse des Menschen stets höher zu bewerten als die von Tieren? Gilt das auch für alle anderen Lebewesen, gibt es Abstufungen im Hinblick auf den Entwicklungsgrad? Warum etwa genießen Wirbeltiere im Tierschutzrecht einen höheren Schutzstatus als wirbellose Tiere, wie zum Beispiel Insekten, Spinnen, Würmer oder Krebse?

 

Ethische Positionen

 

Auf diese Fragen gibt es keine Antworten, die von allen Mitgliedern moderner Gesellschaften geteilt werden. Extremformen ethischer Positionen stellen entweder den Menschen bedingungslos über alle anderen Lebewesen oder aber sie billigen auf der anderen Seite allem Lebendigem – also auch niederen Tieren und Pflanzen –einen eigenen (gleichrangigen) ethischen Schutzwert zu. Der sogenannte Anthropozentrismus stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Danach sind alle Lebewesen außer dem Menschen nicht um ihrer selbst willen schützenswert, sondern nur sofern, sie dem Menschen auf irgendeine Art und Weise dienen oder nützen. Anthropozentrismus ist jedoch kein Plädoyer für Tierquälerei, aber er begründet in einer langen Tradition den Tierschutz nur indirekt mit dem sogenannten Verrohungsargument: Er warnt vor der Tierquälerei, da diese die Fähigkeit des Menschen zur Empathie beeinträchtige, zur Verrohung führe und ihn damit zur Gefahr für seine Mitmenschen mache. Dieses Argument wird zwar heute aus psychologischer Sicht kritisch gesehen, ein Verbot der Tierquälerei ist aber auch beim Anthropozentrismus nur folgerichtig. Auch der Philosoph Immanuel Kant sah die Pflichten von Menschen gegenüber Tieren nur indirekt in den Pflichten des Menschen gegen sich selbst begründet.

 

Der Biozentrismus stellt eine gegenteilige ethische Position dar. Er misst jedem Lebewesen einen eigenen ethischen Wert bei. In extremer Form fordert der Biozentrismus gar die gleichen Rechte auf Leben und Entwicklung für alle Lebewesen – auch Pflanzen, Pilze und Einzeller – ein. Albert Schweitzer war einer der prominentesten Vertreter dieser Ethik. Eine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Arten des Lebens lässt diese Ethik aber nicht zu.

 

Ethische Grundlagen des deutschen Tierschutzgesetzes

 

Dem Tierschutzgesetz liegt die Auffassung zugrunde, dass Menschen ein grundsätzliches moralisches Recht haben, über Tiere zu verfügen. Diese Grundüberlegung ist jedoch nicht als grenzenlose Verfügungsgewalt zu verstehen, sondern verpflichtet den Menschen als verantwortlichen Akteur, Leben und Wohlergehen von Tieren zu schützen. Die Verfügung vom Menschen über Tiere stößt insbesondere da an Grenzen, wo Tiere erheblich belastet oder grundlos getötet werden. Diese Auffassung wird ethisch mit dem sogenannten Pathozentrismus (von griechisch pathos: Erleiden) begründet. Der Grund, warum Tiere besonders schutzwürdig sind, liegt in ihrer Leidensfähigkeit. Das Maß für diesen Schutz bestimmt sich daran, wie intensiv Tiere in einem umfassenden Sinn unter der Behandlung von Menschen „leiden“, was Unbehagen, aber auch Schmerzen und Angstzustände einschließt. Entsprechend kennt der Pathozentrismus eine Differenzierung zwischen den Arten des Lebens. Die pathozentrische Tierethik schreibt empfindungsfähigen Tieren einen abgestuften moralischen Status zu, der zwar schwächer ist als der des Menschen aber wesentlich stärker als der moralische Status nicht empfindungsfähiger Tiere oder Pflanzen. Es bestimmt also allein die Eigenschaft der Leidensfähigkeit eines Tieres darüber, ob sie schützenswert sind oder nicht. Je stärker ein Tier dazu in der Lage ist, nach menschlichem Ermessen zu leiden, desto schützenswerter ist es.

 

Das deutsche Tierschutzrecht basiert im Wesentlichen auf dieser ethischen Betrachtungsweise. Sie erkennt Pflichten gegenüber Tieren an und unterstreicht besonders die Vermeidung von Leiden. Eine Ethik, die anerkennt, dass die Interessen von Menschen stärker berücksichtigt werden als die von empfindungsfähigen Tieren, die aber auch Rechtfertigungsgründe für die Belastung von Tieren kennt, wie menschliches Leben, menschliche Gesundheit oder der Erkenntnisgewinn, ist am besten als pathoinklusive Ethik zu bezeichnen. Diese schließt auch das Töten von Tieren nicht grundsätzlich aus, setzt aber zum Maßstab, dass dies möglichst angst- und leidensfrei erfolgen muss. Auch diese ethische Betrachtungsweise schreibt Tieren also durchaus Rechte zu. Rechte besitzen Tiere allerdings nie von sich aus, sondern sie werden Tieren durch den Menschen zugeschrieben, da nur Menschen dazu fähig sind, moralische Verpflichtungen zu formulieren und auch zu befolgen.

 

Was ist ethisch vertretbar?

 

Diese tierethische Pflicht zur Minimierung von Leiden von Tieren erfordert vor jedem Versuch mit Tieren eine Abwägung, ob der zu erwartende Nutzen für den Menschen wichtiger ist als die zu erwartende Belastung für das Tier. Gleichzeitig ist diese Belastung auf das geringstmögliche Maß zu beschränken. Erst dann kann ein Tierversuch als „ethisch vertretbar“ gelten. Denkt man diese Pflichten konsequent weiter, kommt man zu dem Prinzip der sogenannten 3R, welches von William Russell und Rex Burch 1959 vorgeschlagen und veröffentlicht wurde. Dieses Prinzip wurde daraufhin als Verpflichtung in die Praxis der Tierversuche eingeführt. Das 3R-Prinzip steht für die drei zentralen Aspekte Replacement (Vermeidung), Reduction (Verringerung) und Refinement (Verfeinerung) von Tierversuchen. Sie zielen darauf ab, Tierversuche, falls möglich, ganz zu vermeiden, ihre Zahl gering zu halten und die Leiden der Versuchstiere zu minimieren. In der Basler Deklaration haben sich Forscher aus der Schweiz, Deutschland, England, Frankreich und Schweden unter anderem auf die Einhaltung eben dieser Prinzipien verpflichtet. Im Tierschutzrecht und in der wissenschaftlichen Praxis ist das 3R-Prinzip heute gängiger Standard. Gerade die Vermeidung von Tierversuchen ist ein zentraler Aspekt. So kann ein Tierversuch nur dann genehmigt und durchgeführt werden, wenn keine Alternativmethoden zur Verfügung stehen.

 

Die Vermeidung von Leiden der Tiere erfordert eine sehr genaue Kenntnis der Versuchstiere. Nicht immer ist die Entwicklungsstufe der Tiere gleichbedeutend mit ihrer Leidensfähigkeit. Obwohl eine Ratte sinnesphysiologisch nicht so weit entwickelt ist, wie beispielsweise ein Affe, kann der Affe unter bestimmten Bedingungen weniger Stress durch einen Tierversuch erfahren – also weniger darunter leiden. Auch dieser Aspekt ist also Teil der ethischen Beurteilung eines Tierversuchs und wird sehr genau geprüft, bevor ein Wissenschaftler einen Antrag stellt: Es muss für jeden konkreten Einzelfall mit viel Sachkenntnis ausgelotet werden, was die Belastungen durch einen Versuch für Tiere genau dieser Spezies bedeuten.[hier weiter Verweis auf Artikel/Film zu 3R]

 

Trotz dieser hohen moralischen und rechtlichen Standards findet seit langem eine öffentliche, teils kontroverse Debatte über den Tierschutz und auch generell über Tierversuche statt. Das heute in Europa gültige Tierschutzrecht ist Resultat eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses zwischen verschiedenen Positionen und wird es auch weiterhin bleiben. Ein Ende der Debatte ist also nicht abzusehen. Bei der Diskussion über die Werte sind letztlich alle Beteiligten in der Gesellschaft herausgefordert, konkrete Richtlinien immer wieder den sich ändernden Standards der Gesellschaft und neu gewonnenem Wissen über Tiere anzupassen, ohne dabei die Werte in Frage zu stellen, auf denen unsere Gesellschaft fußt. Zu diesen Werten gehört sowohl die Verpflichtung auf einen möglichst schonenden Umgang mit Tieren wie auch die Verbesserung der Lebensumstände von Menschen und Tieren durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der Medizin, der Tiermedizin und den Lebenswissenschaften.

 

Auch das Solidaritätsprinzip gehört zu diesen Werten. Es beschreibt die Pflicht, Hilfsbedürftigen, Schwachen und Kranken bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Ein vollständiges Verbot von Tierversuchen stünde im Widerspruch zu diesem Prinzip, das eine Voraussetzung für menschliches Zusammenleben ist und den Menschen als verantwortungsbewusstes, zur Solidarität fähiges Wesen besonders auszeichnet.

 

Quellen und weiterführende Links zum Thema:

 

Stellungnahme der Leopoldina

Bundeszentrale für politische Bildung

Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften

Max-Planck-Gesellschaft

 

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