Tierversuche mit Mäusen legen Grundlagen für neue Krebstherapien

Prof. Dr. Hans-Reimer Rodewald vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg (DKFZ) hat mit seinen Kollegen grundlegende Erkenntnisse über Bildung und Erhalt eines funktionsfähigen Immunsystems gewonnen. Durch weltweite Forschung in der Immunologie wurde erst in den letzten Jahren klar, dass das Immunsystem nicht nur bei der Abwehr von Infektionen, sondern auch bei Krebs eine entscheidende Rolle spielt. Rodewald sieht Tierversuche als unverzichtbar an – für künftige Fortschritte in der Grundlagenforschung, aber auch für neue Krebstherapien.

Mit welchen Tieren betreiben Sie Ihre Forschung? Welche Eigenschaft besitzen sie, mit der Sie neue Erkenntnisse gewinnen?

Hans-Reimer Rodewald: Als Immunologe arbeite ich sowohl mit Zellkultur-Methoden als auch in vivo mit Mäusen. Die Maus ist besonders geeignet zur Entschlüsselung der Rolle einzelner Gene und für Untersuchungen normaler (physiologischer) und krankhafter (pathologischer) Prozesse im Kontext des gesamten Organismus. Hierfür stellen wir am DKFZ Mausmutanten her, wir züchten sie auch hier. Wir betreiben Grundlagenforschung. Dadurch gewinnen wir manchmal unerwartete Erkenntnisse, die wir mit Ersatzmethoden nicht herausgefunden hätten.

Ein Beispiel: Bis in die 60er Jahre hinein wusste man nicht, wozu das Organ Thymus da ist. Mittlerweile wissen wir: Der Mensch braucht es, damit seine Immunzellen lernen, fremdes von eigenem Gewebe zu unterscheiden, was zum Beispiel entscheidend ist, um Viren abwehren zu können. Das Organ funktioniert wie ein Durchlauferhitzer: Unreife Lymphozyten aus dem Knochenmark wandern in den Thymus, reifen dort und werden als ein besonders wichtiger Zelltyp weißer Blutkörperchen (T-Zellen) entlassen. Wir haben entdeckt, dass der Thymus entgegen unserer Erwartungen nicht leerläuft, wenn man den Nachschub an Vorläuferzellen abdreht, sondern selbst aktiv (‚autonom’) wird. In Mäusen führt diese Selbsterneuerung unreifer Zellen zur Entstehung von T-Zell Leukämien (T-ALL). Diese Maus dient uns als Krebsmodell und ist nach den bisher getesteten Kriterien der menschlichen T-ALL sehr ähnlich. Bisher waren keine auslösenden Faktoren bekannt, die zu dieser Erkrankung führen können. Die Forschung an Mäusen kann uns helfen, hier weiter zu kommen. Das beschriebene Experiment der Tumorentstehung ist bisher das einzige Modell, das der humanen Erkrankung ähnelt.

Kritiker behaupten, die Ergebnisse von Tierversuchen seien nicht auf den Menschen übertragbar.

Rodewald: Moleküle, Zellen und Organe und deren Funktionen sind zwischen Mäusen und Menschen sehr ähnlich. Sicherlich ist die Forschung mit der Maus nicht für jeden Forschungsbereich geeignet. Deswegen müssen Wissenschaftler von Fall zu Fall neu überlegen, ob das verwendete Modell repräsentativ ist. Nach allem was wir wissen, funktioniert der Thymus in der Maus so wie der Thymus im Menschen. Das gilt von Immundefekten wie dem berühmten Bubble Boy, der nur in einem sterilen Zelt leben konnte, bis zu angeborenen Formen der Autoimmunität. Ich halte die globale Kritik, die Ergebnisse von Tierversuchen seien nicht auf den Menschen übertragbar, nicht für gerechtfertigt.

Welche Fortschritte in der biomedizinischen Forschung haben zuletzt Therapien verbessert oder erst ermöglicht?

Rodewald: Das hervorragendste Beispiel ist die nun in der Klinik erfolgreiche Immuntherapie bei einigen Krebsarten, etwa bei metastasiertem schwarzem Hautkrebs. Hier gibt es erstmals Langzeit-Überlebende. Diese bahnbrechenden Erfolge amerikanischer und japanischer Forscher basieren auf mindestens 30 Jahren immunologischer Grundlagenforschung zur Signalübertragung (Aktivierung und Hemmung) in T-Zellen. Diese Arbeiten entstanden maßgeblich durch Forschung an dem Immunsystem der Maus. Sogar die ersten Experimente zur Wirksamkeit dieser Immuntherapie fanden in Mäusen statt, und sie funktionierte auch in Mäusen wie später die Therapie in Patienten.

Hätten diese Ergebnisse auch mit Ersatzmethoden erzielt werden können? Könnten diese in der Immunologie Tierversuche künftig ersetzen?

Rodewald: Das Immunsystem ist kein einzelnes Organ im Körper. Es besteht vielmehr aus vielen Organen (Milz, Lymphknoten, Thymus, Knochenmark, Tonsillen usw). Millionen von Immunzellen patrouillieren fast den gesamten Körper auf der Suche nach krankmachenden Erregern oder eben auch entarteten Zellen. Die Analyse eines derart komplexen Systems kann nur in kleinen Ausschnitten durch Ersatzmethoden studiert werden. Für die aktuelle Forschung ist es zum Beispiel wichtig zu verstehen, wie lange und wo sich Zellen in Geweben aufhalten. Manche von ihnen werden im Körper regelrecht sesshaft und halten sich jahrelang an der gleichen Stelle auf. Andere sind ständig in Bewegung wie auf einer Durchfahrtsstraße. Es ist offensichtlich, dass der Kreislauf in einem lebenden Organismus notwendig ist, um diese komplexen Systeme zu verstehen. Mit aufwändigen genetischen Verfahren ist es heute möglich, Zellen in ihrer natürlichen Umgebung zu markieren ohne sie dabei zu stören und so ihr normales Verhalten zu untersuchen.

Ein anderes Beispiel sind blutbildende Stammzellen: Diese werden schnell aktiviert oder sterben, sobald man sie aus dem Knochenmark isoliert; in ihrer natürlichen Umgebung im Knochenmark verhalten sie sich aber ganz anders. Sie sitzen dort ruhig und sind nur alle 3 bis 4 Monate einmal aktiv, indem sie sich in reifere Zellen weiterentwickeln.

Wenn Sie einige Jahre zurückblicken: Wie haben sich der Umgang mit Versuchstieren und ihre Haltung entwickelt?

Grafik: Zehn Fakten zu Mäusen
Zehn Fakten zu Mäusen.

Rodewald: Die Haltung der Versuchstiere ist sehr viel standardisierter, kontrollierter und damit aufwändiger geworden. Wir achten darauf, dass die Mäuse unter immer gleichen Bedingungen leben, keine Infektionen bekommen und einen definierten genetischen Hintergrund haben, damit die Ergebnisse weltweit miteinander vergleichbar sind. In Zukunft wird es aber vermutlich wichtiger, Mäuse nicht nur unter solchen quasi sterilen, sondern auch unter ‚immunologisch herausfordernden’ Bedingungen zu halten

Die meisten Tiere werden gar nicht selbst für Versuchszwecke genutzt, sondern dienen der Zucht. Das ist jedoch kaum vermeidbar, will man nur ansatzweise die Funktion der etwa 30.000 unterschiedlichen Gene entschlüsseln. Darauf können wir nicht verzichten, wenn wir physiologische Prozesse künftig besser verstehen wollen.

Welche Hürde muss als nächstes überwunden werden, um Krebserkrankungen besser behandeln zu können? Und welchen Beitrag kann dabei die biomedizinische Forschung leisten?

Rodewald: Ich glaube, dass wir bei vielen, vielleicht den meisten, Krebserkrankungen noch nicht ausreichend verstehen, warum sie überhaupt entstehen. Oft werden spontane Mutationen verantwortlich gemacht. Aber neue Daten zeigen, dass Mutationsraten beim Menschen nicht erklären können, warum bestimmte Gewebe häufiger von Krebs betroffen sind als andere. Wir brauchen weiterhin Tierversuche in der biomedizinischen Forschung, einschließlich der Krebsforschung. Und das wird sich lohnen: wie gesagt wurden Immuntherapien gegen Krebs mit Hilfe von Mäusen entwickelt. Grundlagenforschung, bei der es zunächst „nur“ um Erkenntnisse geht, ist meiner Meinung nach der vielversprechendste Weg, um medizinische Fortschritte zu erreichen.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Frau und Fragezeichen

Dialog

Fragen Sie uns

Unsere Experten beantworten gerne Ihre Fragen.

Kontaktformular Bestellen
Tierversuche verstehen-Podcast
"Fabeln, Fell und Fakten":