Tierversuche in der Schlaganfallforschung: „Wir müssen noch bessere Wissenschaft machen“

Habe ich Tiere umsonst getötet? Diese Frage stellt sich Prof. Ulrich Dirnagl, Professor für Klinische Neurowissenschaften an der Charité in Berlin, wenn er in einem Gastbeitrag auf Tierversuche verstehen auf die Ergebnisse von Tierexperimenten in der Schlaganfallforschung schaut. Dabei vertritt er die Ansicht, dass einige Argumenten von Kritikern teilweise gerechtfertigt sind. Zeitgleich ist er aber der Überzeugung, dass die Forschung nicht auf Tierversuche verzichten kann. In einem Gastbeitrag spricht er über die Tierversuche und erklärt, was sich in der Wissenschaft ändern muss.

Gastbeitrag von Prof. Ulrich Dirnagl

Ein Schlaganfall verändert innerhalb von Sekunden dramatisch das Leben von Patienten und deren Familien. Ein Schlaganfall kann tödlich sein, häufig aber führt er zu lebenslanger Behinderung in Form von Lähmungen und Sprachstörungen. Der Schlaganfall ist eine der häufigsten Todesursachen, und die häufigste Ursache für Behinderungen im Erwachsenenalter.

Seit etwas mehr als 30 Jahren versuche ich zusammen mit Kollegen Therapien zu entwickeln, welche dem Schlaganfall etwas von seinem Schrecken nehmen könnten. Dazu führen wir auch Tierexperimente durch, und versuchen dann die so gewonnenen Erkenntnisse in klinischen Studien auf Patienten zu übertragen. Wie erfolgreich waren wir damit eigentlich, und waren die Tierversuche gerechtfertigt? Sind sie es auch heute noch?

Tierversuchsgegner sind vom Nutzen solcher Tierstudien nicht überzeugt. Sie behaupten, dass die Übertragung der tierexperimentellen Ergebnisse auf den Menschen prinzipiell nicht möglich ist. Daher würde nicht nur den Tieren unnötig Leid zugefügt, auch Patienten nähmen dadurch Schaden. Aufgrund von nicht übertragbaren Tierversuchen würden Patienten unnötig unwirksamen, vielleicht sogar schädlichen Medikamenten ausgesetzt. Außerdem könne man Tierversuche heute durch viel bessere Verfahren ersetzen, wie zum Beispiel Zellkulturen.

Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen denke ich, dass eine Reihe der von den Tierversuchsgegnern vorgebrachten Argumente sehr ernst zu nehmen sind, ja dass sie teilweise recht haben.

Prof. Ulrich Dirnagl

Waren die bisherigen Versuche gerechtfertigt?

Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen denke ich, dass eine Reihe der von den Tierversuchsgegnern vorgebrachten Argumente sehr ernst zu nehmen sind, ja dass sie teilweise recht haben. Dennoch bin ich überzeugt davon, dass wir für den medizinischen Fortschritt auf Tierversuche nicht verzichten können. Wie passt das zusammen?

Zunächst zur Frage, ob die bisherigen Tierversuche gerechtfertigt waren. Auf den ersten Blick sieht es, zumindest beim Schlaganfall, aber auch bei der Erforschung anderer Hirnerkrankungen wie dem Morbus Alzheimer, nicht besonders gut aus! Ständig künden wir Wissenschaftler in unseren Journalen von großen Fortschritten. Sogar von der Möglichkeit, nun Mäuse oder Ratten erfolgreich behandeln zu können, ja manchmal sogar, sie ganz zu heilen. Auch in der Apotheken-Rundschau oder in der Tageszeitung wird dann häufig kurzatmig das Bevorstehen eines Durchbruches in der Behandlung von schwerwiegenden Erkrankungen angekündigt: ‚Krebs bald heilbar!‘

Beim Schlaganfall hat von den vielen potenziellen Medikamenten, die weltweit mithilfe von Tierversuchen entwickelt und getestet wurden, keines in einer klinischen Studie überzeugen können. Obwohl viele davon vorher im Tierexperiment anscheinend wirksam waren! Das ist eine deprimierende Bilanz, welche bei mir als beteiligtem Wissenschaftler natürlich die Frage provozieren muss: Habe ich Tiere umsonst getötet, oder sogar Patienten gefährdet?

Prof. Ulrich Dirnagl, Professor für Klinische Neurowissenschaften an der Charité in Berlin.
Foto: BIH – Thomas Rafalzyk

Bis vor etwa 20 Jahren war der Schlaganfall eine im Grunde nicht akut behandelbare Erkrankung. Die Therapie beschränkte sich unmittelbar nach seinem Auftreten auf die Aufrechterhaltung körperlicher Grundfunktionen. Falls der Patient den Schlaganfall überlebt hatte, kam oft noch eine Nachsorge mit mehr oder weniger erfolgreicher physiotherapeutischer Rehabilitation dazu. Dagegen behandeln wir den Schlaganfall heute als medizinischen Notfall, Patienten müssen so schnell wie möglich ins Krankenhaus gebracht werden, und erhalten dort eine spezifische Therapie: Wenn, wie häufig, ein Gefäßverschluss zu Grunde liegt ist dies der Versuch der Auflösung der ‚Verstopfung‘ mit einem Medikament oder einem Katheter, außerdem die vielfältigen Behandlungsmaßnahmen auf einer sogenannten Stroke Unit. Die Sterblichkeit des Schlaganfalls ist dadurch in den letzten Dekaden stark zurückgegangen, auch der Schweregrad der Behinderungen bei den Überlebenden. Noch hat der Schlaganfall seinen Schrecken nicht verloren, dennoch ist dies eine Erfolgsgeschichte der modernen Medizin!

Noch hat der Schaganfall seinen Schrecken nicht verloren, dennoch ist dies eine Erfolgsgeschichte der modernen Medizin!

Eine Erfolgsgeschichte der modernen Medizin

Und all dies basiert auf Tierexperimenten! Nicht unmittelbar jenen, die wir derzeit weltweit durchführen, um das Hirn zu schützen vor den Folgen des Gefäßverschlusses. Die Thrombolyse, also die medikamentöse Auflösung des Blutpfropfes, beruht auf dem Verständnis der über Jahrzehnte vor allem im Tierexperiment untersuchten Mechanismen der Blutgerinnung. Das daraus entwickelte Medikament wurde zunächst für den Herzinfarkt in Tierexperimenten als wirksam und sicher befunden. Daraufhin wurde es klinisch beim Herzinfarkt eingesetzt und konnte dann direkt auf den Schlaganfall übertragen werden. Das gleiche gilt für die auf einer Stroke Unit eingesetzten Therapien. Die Antibiotika beruhen auf Tierexperimenten, die den Kreislauf unterstützenden Medikamente ebenfalls, die Liste ließe sich fortschreiben…

Grafik:Entwicklung eines neuen Medikaments im Zeitverlauf.
Wie läuft die Entwicklung eines neuen Medikaments ab?

Thrombolyse und Stroke Unit haben die Sterblichkeit nach Schlaganfall vermindert. Nach einer in den ersten Stunden nach Symptombeginn durchgeführten Thrombolyse kehren viele Patienten wieder in ihren Beruf zurück, die früher schwerstbehindert gewesen wären. Als Ärzte und Wissenschaftler wollen wir dabei aber nicht stehen bleiben, wir wollen mehr für unsere Patienten erreichen. Wir wollen Therapien entwickeln, die das Gehirn direkt schützen, den Nervenzellen das Überleben ermöglichen. Damit auch denen helfen, die für eine Thrombolyse zu spät ins Krankenhaus kommen, oder bei denen sie nicht wirkt. Und dies ist ganz offensichtlich viel schwieriger als das bisher Erreichte. Wir können vermutlich nicht mit einem einfachen ‚Durchbruch‘ rechnen, einer Wunderdroge, die das Gehirn schützt. Es sind viele kleine Schritte des verbesserten Verständnisses nötig und die Effekte einzelner Therapien beim Patienten werden vermutlich eher gering sein – die Kombination von Maßnahmen bringt den Nutzen für die Patienten.

Hierzu brauchen wir Tierexperimente. Wir können einiges aus Zellkulturen lernen, vor allem von den sogenannten Hirn-Organoiden. Das sind kleine Zellhäufchen im Gläschen, die viele der Zellen des Gehirns enthalten. Es fehlt darin aber die Durchblutung, die ja der Auslöser beim Schlaganfall ist, genauso wie das Immunsystem, von dem wir heute – durch Tierversuche! – wissen, dass es eine wichtige Rolle für den Schaden beim Schlaganfall spielt. Wir können heute auch viel mehr direkt im Patienten untersuchen und dadurch verstehen. Moderne Hirnbildgebung, sowie neue genetische Verfahren kommen hier zum Einsatz. All das hilft Tierexperimente zu reduzieren, und die Kombination aus Tierversuchen mit diesen Techniken erhöht die Wahrscheinlichkeit, aus der Gesamtheit der Ergebnisse für die Patienten nützliche Erkenntnisse zu gewinnen.

Warum sind wir nicht schon viel weiter?

Wofür und wie häufig werden Versuchstiere eingesetzt?

Woran liegt es also, dass wir nicht schon viel weiter sind, trotz Tierversuchen, und neuer ‚alternativer‘ Techniken? Zum Einen, weil wir die ‚niedrig hängenden Früchte‘, wie zum Beispiel die Thrombolyse, bereits ‚gepflückt‘ haben. Jetzt kommt die harte Arbeit der kleinen Schritte. Zudem ist die Aufgabe von dramatischer Komplexität: Wir müssen dazu wichtige Aspekte der Funktion des Gehirns, der komplexesten ‚Maschine‘ des bekannten Universums, sowie dessen Stoffwechsel verstehen. Dazu noch das Zusammenspiel des geschädigten Gehirns mit dem Immunsystem und dem Herz-Kreislaufsystem. Das bedeutet auch viel Grundlagenforschung. Forschung, die nicht unmittelbar zu einer Therapie führt, vielleicht nicht einmal unmittelbar zum Verständnis eines Krankheitsmechanismus. Fast unser gesamtes Wissen über die Funktion von Organismen sowie deren Störungen (‚Krankheiten‘) kommt aus einer Art Puzzle von Einzelergebnissen. Diese sind aus Forschung erwachsen, die ganz basale Fragen gestellt hat. Und die häufig im Tierexperiment durchgeführt wurden. Viel später wurde dann erst klar, welche Bedeutung das Ergebnis für Krankheiten hat, und dass man daraus sogar neue Therapien entwickeln kann.

Und dann gibt es, glaube ich, noch einen weiteren Grund für den langsamen Fortschritt, der mich persönlich in den letzten Jahren sehr bewegt hat: Ich glaube, wir müssen noch bessere Wissenschaft machen. Das gilt für die Tierexperimente wie für die klinischen Studien.

Ich glaube, wir müssen noch bessere Wissenschaft machen. Das gilt für die Tierexperimente wie für die klinischen Studien.

Falsche Anreize in der Wissenschaft

Forscher werden meist nicht danach beurteilt, wie nützlich ihre Ergebnisse sind oder wie sehr man sich auf ihre Resultate verlassen kann. Die ‚Produkte‘, an denen wir gemessen werden, sind Fachpublikationen und eingeworbene Forschungsgelder. Das ist einfach zu messen, ja irgendwie ‚objektiv‘, hat aber manchmal nicht viel mit der Qualität unserer Arbeit zu tun. Wir haben nicht die Zeit, das Gefundene abzusichern. Auch ist die Verlockung groß, aus unseren Ergebnissen die ‚spannendsten‘ für die Publikation auszuwählen, und die schwieriger zu interpretierenden, oder die widersprüchlichen, in der Schublade verschwinden zu lassen. Und so kommt es, dass es mittlerweile häufig Schwierigkeiten gibt, wissenschaftliche Ergebnisse zu wiederholen. Das gilt übrigens für Tierversuche genauso wie für Studien am Menschen. Wenn aber am Tier schon etwas nicht wiederholbar ist, wie können wir erwarten, dass es für den Menschen relevant ist? Was wir brauchen ist eine höhere Wertschätzung der Qualität und Robustheit unserer Forschung, damit die Ergebnisse belastbarer werden und die Übertragbarkeit unserer Ergebnisse verbessert wird. Wir könnten zum Beispiel Wissenschaftler belohnen, welche ihre Daten transparent anderen Forschern zur Verfügung stellen, auch solche Ergebnisse publizieren, die nicht das erhoffte Ergebnis hatten, oder Studien anderer wiederholen, um die Befunde robuster zu machen. ‚Belohnen‘ heißt dabei, dies bei der Vergabe von Fördermitteln oder Berufung auf Professuren zu berücksichtigen. Das müssen die Wissenschaftler und die Einrichtungen, in denen sie arbeiten, also die Universitäten und Großforschungseinrichtungen, unter sich klären! Natürlich zusammen mit denen, die das Geld für unsere Forschung verteilen (Forschungsförderer), und unter den Augen derer, die das Geld dafür geben und die damit größtes Interesse daran haben sollten, dass es auch gut eingesetzt wird: Die Steuerzahler nämlich. Waren die 30 Jahre, in denen ich Schlaganfallforschung gemacht habe, also verlorene Zeit, und habe ich unnötig Tierversuche durchgeführt? Ich bin überzeugt davon, dass dies nicht so ist.

Waren die 30 Jahre, in denen ich Schlaganfallforschung gemacht habe, also verlorene Zeit, und habe ich unnötig Tierversuche durchgeführt? Ich bin überzeugt davon, dass dies nicht so ist.

Wir haben zwar bisher kein Medikament entwickelt, welches das Gehirn vor den Folgen des Schlaganfalls schützt. Aber die Erkenntnisse aus unseren Experimenten, auch und gerade von denen mit Tieren, haben etwas dazu beigetragen, die hoch komplexen Vorgänge im Gehirn und im Körper nach Schlaganfall besser zu verstehen. Manches davon ist heute schon in die Entwicklung von Therapien eingeflossen, wie wir sie heute auf der Stroke Unit am Menschen einsetzen. Manches davon wird hoffentlich die Basis dafür sein, dass wir in der Zukunft weitere, direkt das Hirn schützende Therapien entwickeln können. Aber ich glaube auch, dass wir vieles hätten besser machen können. Nicht alle Studien waren verblindet oder randomisiert, Ergebnisse von negativen Studien blieben häufig unveröffentlicht, und die Auswahl der Daten für die Veröffentlichung war manchmal von unseren Erwartungen geleitet. Die so gewonnenen Erkenntnisse waren dann möglicherweise wenig belastbar. Dies ist ethisch problematisch, weil hierfür Tiere eingesetzt wurden, aber auch weil möglicherweise auf Basis solcher Ergebnisse klinische Studien durchgeführt wurden. Die gute Nachricht ist: Hier können wir nun ansetzen. Dabei spielt der Einsatz ‚alternativer‘ Methoden und direkter Studien am Menschen ebenso eine Rolle wie die Verbesserung der allgemeinen Forschungsqualität. Dies können wir zum Beispiel erreichen, indem wir Qualität – und nicht Quantität – direkt in der Bewertung von Forschern und deren Wissenschaft berücksichtigen und so neue Anreize für bessere Wissenschaft schaffen.

Ulrich Dirnagl ist Professor für Klinische Neurowissenschaften an der Charité in Berlin, wo er die Abteilung für Experimentelle Neurologie leitet. Seit 2017 ist er auch Gründungsdirektor des QUEST Center for Transforming Biomedical Research am Berlin Institute of Health (BIH). Dort beschäftigt er sich u.a. mit der Frage, wie das Forschungssystem verbessert werden kann, um schneller zu verlässlichen und damit medizinisch nutzbaren Erkenntnissen zu gelangen. Daneben betreibt er einen Blog und schreibt die Kolumne „Einsichten eines Wissenschaftsnarren“ für das Laborjournal.

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