Sie sind nur wenige Millimeter klein und bieten dennoch eine große Chance für Wissenschaftler. Organoide ermöglichen es Forschern, im Reagenzglas Lebensvorgänge des Körpers zu untersuchen. „Tierversuche verstehen“ beleuchtet in zwei zusammenhängenden Artikeln ausführlich die Grundlagen und Möglichkeiten (Teil 1) dieser Organvorstufen sowie ethische Fragen (Teil 2), die sich im Zusammenhang mit der Diskussion um Tierversuche stellen.
Organoide resultieren aus der Forschung an Stammzellen. Letztere werden aus Embryonen oder aus reprogrammierten ausdifferenzierten Gewebezellen (sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen, iPSC) gewonnen. So haben embryonale Stammzellen die Fähigkeit, alle Zelltypen des Körpers herzustellen, adulte Stammzellen dagegen ersetzen meist nur die Zellen ihres Ursprungsorgans. Allerdings verfügen nicht alle Organe und Gewebe über derartige Stammzellen. Bei dem Bemühen, adulte Stammzellen beliebig oft zu vermehren und bei Untersuchungen der Teilung von Stammzellen entdeckten Forscher, dass dabei primitive organoide Strukturen entstehen können.
Organoide ermöglichen der Forschung nun, auf einer komplexeren Ebene – mit organähnlichen, sich selbst organisierenden Zellstrukturen des Menschen – zu arbeiten. Gewebespezifische Eigenschaften und die zelluläre Kommunikation können viel besser untersucht werden als dies bisher mit standardisierten Zelllinien oder frisch gewonnenen Primärzellkulturen möglich war. Sie lassen neue Erkenntnisse erwarten, sowohl für die Zelltherapie, als auch für die Erforschung von Krankheitsursachen und die Medikamenten-Entwicklung. Menschliche Organoide ermöglichen einen besseren Zugang zu Erkrankungen des Menschen wie Alzheimer oder Parkinson, die bei Tieren nicht vorkommen.
Auf den ersten Blick scheinen Organoide auch das Dilemma aufzulösen, das mit Tierversuchen einhergeht: Deren Nutzen für den Menschen ist stets gegen das Leid von Tieren abzuwägen. Etwa 20 bis 25 % der Versuchstiere in Deutschland werden in vorklinischen Tests von pharmazeutischen Wirkstoffen oder für die Prüfung der Giftigkeit von Substanzen an Organvorstufen des Menschen eingesetzt. Gerade in solchen immer wieder gleich ablaufenden Reihenuntersuchungen böte sich der Einsatz von Organoiden an, die menschlichen Ursprungs sind und sich so in vielen biologischen Prozessen ähnlich den menschlichen Organen verhalten. Dadurch könnte die Zahl der Tierversuche in Zukunft senken, sobald Organoid-basierte Verfahren als gleichwertig geprüft und für diese Zwecke von den Behörden international anerkannt werden.
Tierversuche werden jedoch nicht komplett durch Organoide ersetzbar sein. Geht es nämlich um Tests am oder in einem lebenden Organismus, wird man an Tierversuchen nicht vorbeikommen. So sind in-vitro-Methoden zum Beispiel ungeeignet als Ersatz für Versuche, bei denen der Einfluss äußerer Reize auf das Verhalten oder physiologische Prozesse untersucht wird. Sie sind ebenfalls nicht brauchbar, wenn die Entwicklung bestimmter Tumore im Körper erforscht werden soll. Schließlich sind in vitro gezüchtete Organoide – der Name kennzeichnet das – keine Organe, sie sind nicht eingebettet in die „lebende Umgebung“ des Körpers. Ihnen fehlt im aktuellen Stadium der Entwicklung noch die Versorgung durch Blutgefäße, die Verbindung zu Nervenzellen, und sie haben bisher keinen Kontakt zu Zellen des Immunsystems. Kurz: Die Komplexität des lebenden Organismus können Organoide aktuell nicht abbilden.
Wie viele andere Methoden in der biomedizinischen Forschung wirft auch der Einsatz von Organoiden neue ethische Fragen auf. Die Bedeutung der Organ-Vorstufen dürfte trotz aller Verbesserungen, zu denen die Wissenschaft beispielsweise in der Medizin führt, eher zu- als abnehmen. Zu klären ist, ob bisher unbekannte Grenzen überschritten werden sollen, z.B. bei der Transplantation humaner Organoide in Tiere. Auch wird die Frage zu beantworten sein, wie mit dem Krebsrisiko beim Stammzelltransfer und gezielten Genveränderungen umzugehen ist. Auch die Frage des „ownership“, also wem die Organoide eigentlich gehören, ist noch ungeklärt.
Das wird besonders an der Forschung an unserem komplexesten Organ deutlich: dem Gehirn. 2013 gelang es Prof. Dr. Jürgen Knoblich mit seinem Team am Wiener Institut für molekulare Biotechnologie, aus humanen Stammzellen Organoide des Gehirns herzustellen. Die Wissenschaftler möchten den Aufbau und die Entwicklung des Gehirns besser verstehen, ebenso neurologische Erkrankungen, und untersuchen dazu unter anderem eine Reihe von Modellorganismen, die von der Fruchtfliege bis zum Menschen reicht.
Die Gehirn-Organoide, auch „Minibrains“ oder „zerebrale Organoide“ genannt, enthalten Nervenzellen, die frühzeitig messbare elektrische Impulse senden. Später entwickeln sich daraus sogar einfache neuronale Netzwerke. Können diese so etwas wie Gedanken entwickeln? Können Hirnorganoide miteinander kommunizieren? Hirnorganoide, die in das Hirn von Mäusen und Ratten verpflanzt wurden, traten jedenfalls in regen Austausch mit dem tierischen Hirngewebe. Und was geschieht, wenn mehrere Minibrains zusammen eine höhere Struktur ausbilden? Nach Ansicht der Wissenschaftler ist es zumindest in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, dass Minibrains so etwas wie Gedanken oder Gefühle entwickeln können.
Wissenschaft, Medizin und Gesellschaft müssen gemeinsam weniger auf solche technischen, sondern vielmehr auf die ethischen und juristischen Herausforderungen eine Antwort finden, die mit dem Einsatz von Organoiden in der Biomedizin verbunden sind. Voraussetzungen dafür sind frühzeitige Information, Transparenz und ein konstruktiver Dialog zwischen allen Beteiligten.
Mehr zum Thema Organoide lesen Sie im ersten Teil.