Prof. Ute Schepers

Multi-Organ-Chip – ein vollständiger Ersatz für Tierversuche?

Die Umgebung ist kleiner als ein Smartphone und bietet dennoch Platz für mehrere menschliche Organe im Miniaturformat: Der Multi-Organ-Chip. Weltweit entwickeln Forschergruppen diese Technologie weiter. Der Mini-Chip soll insbesondere bei der Medikamentenentwicklung zum Einsatz kommen: Er könnte dabei helfen, die Wirkungen und Nebenwirkungen einzelner Substanzen zu erproben. Dadurch können künftig einerseits klinische Studien für Menschen noch sicherer und andererseits möglicherweise Tierversuche für Giftigkeitstests teilweise ersetzt werden. Noch stößt diese Technologie jedoch an Grenzen.

Erst die Erfolge in der Stammzellenforschung, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms sowie der Fortschritt in der Mikrosystemtechnik haben die Herstellung von Miniorganen möglich gemacht. 2012 wurde schließlich der erste Multi-Organ-Chip mit zwei Organ-Modellen präsentiert. Zwei Jahre später konnten bereits vier Miniorgane auf dem Chip miteinander gekoppelt werden. Aktuell arbeiten Wissenschaftler daran, den ersten Chip mit zehn Miniorganen oder mehr (body-on-a-chip) zu entwickeln.

Was genau ist ein Multi-Organ-Chip?

Und so funktioniert der Chip: Mit einem 3D-Drucker werden die dreidimensionalen Miniorgane, die nicht größer als eine Fingerkuppe sind, schichtweise auf ein Kunststoffplättchen, den sogenannten Chip, aufgetragen. Das Ergebnis ist jedoch keinesfalls das Miniatur-Format des echten Organs. „Der Chip misst meist zwei mal acht Zentimeter und ist so groß wie ein Mikroskopobjektträger“, erklärt Prof. Ute Schepers. Sie arbeitet am Institut für Toxikologie und Genetik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und ist Mitbegründerin von vasQlab, das sich auf die Entwicklung von Multi-Organ-Chips spezialisiert hat. Ein Mini-Organ besteht aus einer dreidimensionalen Anordnung von Zellen, die die kleinste Funktionseinheit des Organs nachbilden sollen. Die Zellen stammen aus Gewebe, das zum Teil als Abfallprodukt von Operationen gewonnen oder gespendet wird.

Alternativmethoden

Auf dem Chip können verschiedene Miniorgane durch einen künstlichen Kreislauf von löchrigen Kanälen miteinander verbunden werden. Durch die haarfeinen Kanäle fließt eine blutähnliche Nährstofflösung. Eine kleine Pumpe simuliert die Aufgaben des Herzens und pumpt im Takt die Lösung durch die „Adern“ des Mikrochips. Mit dieser Technik wird versucht Blutdruck und Herzfrequenz nachzubilden. Der Chip bildet den menschlichen Organismus in einem Verhältnis von eins zu 100.000 und funktional stark vereinfacht nach.

Um zum Beispiel die Wirkung einer Substanz mit dem Chip zu testen, wird der Wirkstoff in die Nährstofflösung injiziert und die anschließende Reaktion der Organe beobachtet. Hierbei kommt es auf die Zusammensetzung der verbundenen Miniorgane an: Denn wie im menschlichen Körper soll jedes Organ eine spezifische Funktion erfüllen. „Für die pharmazeutische Industrie sind daher Leber und Niere besonders interessant“, sagt Schepers. Diese Organe sind zum Beispiel bei Giftigkeitsprüfungen entscheidend, da sie Giftstoffe abbauen und ausscheiden.

Chancen eines Body-on-a-chip

Aufbau eines Multi-Organ-Chips
Aufbau eines Multi-Organ-Chips

Die Methode kann dadurch möglicherweise helfen, frühzeitig eine Entscheidung darüber zu treffen, welche Wirkstoffe weiterentwickelt werden sollten und welche nicht. Noch ist es eine Vision, aber die Forscher hoffen, dass es eines Tages einen Body-on-a-chip – also ein Chip mit Modellen aller menschlichen Organen – aus den Stammzellen von Patienten geben wird. An diesen könnten dann bestimmte Krankheitssituationen individuell nachgestellt und überprüft werden, welche Medikamente dem Patienten am besten helfen. So gibt es heute viele Medikamente, die es nicht bis zur Zulassung schaffen, z. B. weil sie nur bei einem Teil der Patienten wirken. Mit dieser Technologie könnte man vorab erproben, ob der Patient zu der Personengruppe zählt, die von der Therapie profitieren würde.

Prof. Thomas Korff von der Universität Heidelberg bremst im Interview mit „Tierversuche verstehen“ jedoch allzu hohe Erwartungen an die Technologie. „Grundsätzlich ist es nicht möglich, die individuelle Physiologie eines Menschen mit Hilfe eines Modells hinreichend abzubilden. Um ethischen Standards bei der Produkttestung gerecht zu werden, bedeutet “hinreichend”, dass sich mit einem Modell alle für die Sicherheit eines Individuums notwendigen Parameter testen lassen“, so Korff.

Kann der Organ-Chip Tierversuche ersetzen?

Schepers ist sich der Grenze der Technologie bewusst: „Der Multi-Organ-Chip kann Tierversuche heute noch nicht vollständig ersetzen.“ Aktuell lassen sich bis zu vier Organmodelle mit dem Chip verbinden – ein Bruchteil des gesamten menschlichen Organismus. Außerdem ist der „Vier-Organ-Chip“ noch nicht so ausgereift, dass er optimal funktioniert: „Ein Knackpunkt ist beispielsweise noch die Durchblutung“, so Schepers. Das ist aber nicht die einzige Hürde hin zu einem individuellen Patientenchip: „Menschen haben viele Zellen, die nicht in einer Zellkulturschale vervielfältigbar sind, wie zum Beispiel bestimmte Leber- und Hirnzellen.“ Die Forschung gehe daher aktuell in die Richtung, sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) so zu behandeln, dass sie die verschiedenen Organe bilden. „Ob das gelingen wird, wissen wir zum aktuellen Zeitpunkt jedoch noch nicht“, sagt Schepers.

Nach Auffassung von Korff gibt es in der Grundlagenforschung jedoch viele Bereiche, in denen Tierversuche weiterhin unumgänglich sind. „Hirnfunktionen oder kardiovaskuläre Funktionen und deren Erkrankung, z.B. Artheriosklerose, können in vitro nicht dargestellt werden“, sagt der Herz- und Kreislaufphysiologe. „On-a-chip“-Techniken könnten bei der Erforschung grundsätzlicher Fragen nur vereinzelt eingesetzt werden.

Reduktion von Tierversuchen

Wenn auch ein vollständiger Verzicht auf Tierversuche in der Medikamentenentwicklung nicht möglich ist, könnten durch den Multi-Organ-Chip die Tierversuchszahlen möglicherweise reduziert werden. „In den nächsten fünf bis sechs Jahren rechne ich auf diesem Forschungsgebiet mit weiteren Erfolgen, weil gerade viele Wissenschaftler weltweit an dem Thema forschen“, meint Schepers. Das Interesse der pharmazeutischen Industrie an der Alternativmethode sei zudem schon jetzt groß. „Wenn wir in 20 Jahren auf Tierversuche im Pharmabereich verzichten könnten, dann wäre das schon ein großer Erfolg!“, unterstreicht sie ihr langfristiges Ziel. Denn bis so ein Chip die nötige Zertifizierung erhält, können durch bürokratisch und wissenschaftlich aufwändige, internationale Validierungsprozesse mindestens zehn bis 15 Jahre ins Land ziehen.

Eine Reduktion von Tierversuchen erwartet auch Korff. „Zellschädigungs- oder Zellfunktionstests auf Basis der “on-a-chip”-Techniken werden sicherlich dazu beitragen, die Versuchstierzahlen zu reduzieren“, prognostiziert der Preisträger des Ursula M. Händel-Tierschutzpreises der DFG. Solange aber zentrale Funktionen wie systemischer Blutdruck, Herzfunktion oder basale Hirnfunktionen wie etwa Kreislaufregulation, Atmung, Nahrungsaufnahme oder Verhalten von den in vitro-Modellen nicht adäquat dargestellt werden könnten, seien im Rahmen der Wirkstofftestung weiterhin Tierversuche notwendig. „Die im Tierversuch erfassten Parameter sind bestimmt nicht in jedem Fall aussagekräftiger, denn immerhin ist auch das Tier nur ein Modell für den menschlichen Körper“, sagt Korff. Gut möglich sei jedoch, dass es einen entscheidenden Hinweis auf eine unerwünschte Nebenwirkung gebe, den die “on-a-chip”-Technik nicht zeigen würde. Der Forscher betont: „Somit ist es meiner Auffassung nach im Moment ethisch nicht verantwortbar, Tierversuche vollständig zu ersetzen.“

Weiterführende Links

Fragen und Antworten zu Tierversuchen und Alternativmethoden des Bundesinstituts für Risikobewertung

Interview mit Prof. Thomas Korff

Update vom 17.10.2017: Der Bericht wurde um Aussagen von Prof. Thomas Korff ergänzt.

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