Faktencheck-Reihe:
„Der Mensch ist keine 70-Kilo-Ratte!“

Nicht alle Tierversuche sind gleichwertig auf den Menschen übertragbar und führen am Ende zur Entwicklung neuer Therapien. Als Gründe hierfür werden oftmals fehlende Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier, Zahlen oder Statistiken genannt. Die Initiative Tierversuche verstehen prüft in der „Faktencheck-Reihe“ vier Behauptungen zur Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Tierversuchen auf ihre Stichhaltigkeit.

Behauptung 2:

„Der Mensch ist keine 70-Kilo rate“

„Der Mensch ist keine 70-Kilo-Ratte!“ – diese Aussage ist eine einfache Wahrheit, die auf den ersten Blick überzeugend darstellt, warum sich Ergebnisse aus Versuchen an Nagetieren nicht auf Menschen übertragen lassen sollten. Und dennoch wird beispielsweise bei der Dosierung neuer Medikamente oder der Sicherheitsprüfung von Chemikalien davon ausgegangen, dass diese Übertragung zumindest prinzipiell möglich ist.

Natürlich ist ein Mensch nicht einfach nur eine übergewichtige Ratte. Entscheidend bei der Übertragung ist jedoch nicht nur das Gewicht, sondern vor allem Körperoberfläche und -volumen. Diese Werte werden beispielsweise zur Berechnung der „first-in-human“-Dosis zu Rate gezogen, wenn ein neuer Wirkstoff zum ersten Mal an Menschen getestet wird, nachdem die Verträglichkeit zuvor an verschiedenen Tieren getestet wurde. Dabei fließt das zwischen den Spezies unterschiedliche Verhältnis von Körperoberfläche und Körpervolumen in die Berechnung der sogenannten humanen Äquivalenzdosis (HED) ein. Für jede Tierart gibt es dabei eigene Umrechnungsfaktoren. Diese international anerkannte Art der Umrechnung zwischen verschiedenen Spezies spielt auch in der Tiermedizin eine Rolle und richtet sich nach dem Prinzip der Allometrie (von griechisch „anders messen“). Dies beruht auf der Beobachtung, dass kleinere Tiere einen schnelleren Stoffwechsel haben als größere, weil sie – wegen des ungünstigeren Verhältnisses von Körperoberfläche zu Körpervolumen – schneller Wärme an die Umgebung abgeben. Dadurch verstoffwechseln sie auch Medikamente meist schneller, weshalb die effektive Dosis eines Wirkstoffs pro Kilogramm Körpergewicht bei Ratten in der Regel deutlich höher liegt als bei Menschen.

Daher ist die Aussage für die Beurteilung der Übertragbarkeit schon allein deshalb nicht sinnvoll, weil selbst bei der Übertragung von Ergebnissen einer normalgewichtigen Ratte auf eine hypothetische „70-Kilo-Riesenratte“ sehr ähnliche Probleme auftauchen würden, wie bei der Übertragung von einer Ratte auf einen Menschen.

Mensch und Tier unterscheiden sich jedoch nicht allein in der Größe, sondern mitunter auch in physiologischen oder enzymatischen Eigenschaften. Das heißt, eine Tierart zeigt beispielsweise durch ein unterschiedliches Repertoire an Zellrezeptoren eine andere Reaktion auf einen bestimmten Stoff oder kann diesen möglicherwiese deutlich schneller abbauen als eine vergleichbar große Tierart.

Beispiel Theobromin: Dieser Inhaltsstoff der Kakaobohne ist für alle Säugetiere giftig, aber der Abbau erfolgt zum Beispiel bei Hunden deutlich langsamer als bei Menschen. Deshalb können Hunde schon bei für Menschen unkomplizierten Mengen (insbesondere dunkler) Schokolade Vergiftungserscheinungen erleiden.

Daher ist bei der Planung von Studien zur Sicherheit neuer Wirkstoffe die Wahl der zu untersuchenden Tierart entscheidend. Je besser die physiologischen und molekularen Unterschiede zwischen verschiedenen Tierarten und dem Homo sapiens bekannt sind, desto sicherer und wertvoller sind die Informationen, die sich aus Versuchen mit diesen Tieren gewinnen lassen.

So sind zwar alle Tiere unterschiedlich, aber Ergebnisse bezüglich der Dosis von Medikamenten lassen sich bis zu einem gewissen Grad sinnvoll zwischen verschiedenen Arten übertragen. Übertragen heißt dabei eben nicht 1:1 nachmachen, sondern die gewonnenen Erkenntnisse interpretieren und auf den Menschen anpassen.

Weitere Beiträge, in denen die Initiative andere Behauptungen auf Stichhaltigkeit prüft und die Bedeutung von Ergebnissen aus Tierversuchen für die Humanmedizin beleuchtet, finden Sie hier.

Frau und Fragezeichen

Dialog

Fragen Sie uns

Unsere Experten beantworten gerne Ihre Fragen.

Kontaktformular Bestellen
Tierversuche verstehen-Podcast
"Fabeln, Fell und Fakten":