Unter dem Begriff Wohlstandskrankheiten (auch Zivilisationskrankheiten genannt) werden Erkrankungen zusammengefasst, deren Auftreten in Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten in Industrieländern gebracht wird. Warum die Forschung im Bereich dieser Krankheiten zunehmend wichtig ist, Tierversuche dabei eine unverzichtbare Rolle spielen und Wohlstandserkrankungen durch eine gesündere Lebensweise alleine nicht zu bekämpfen sind, erklärt Prof. Annette Schürmann vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) im Interview mit der Initiative Tierversuche verstehen.
So genannte Wohlstandskrankheiten – welche sind das und wie entstehen sie?
Prof . Annette Schürmann: Wohlstandskrankheiten fassen bestimmte Krankheiten oder Krankheitszustände zusammen, die in Industrieländern häufiger vorkommen als in der Dritten Welt. Dazu zählen zum Beispiel Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Diabetes und Herz-Kreislauf-Krankheiten, die u.a. durch den Lebensstil, also Überernährung und die niedrige körperliche Aktivität zustande kommen.
Was erforschen Wissenschaftler im Zusammenhang mit diesen Krankheiten?
Schürmann: Wir Forscher untersuchen die Pathomechanismen, das heißt die molekularen Ursachen und die genauen Verläufe der Krankheiten und suchen nach Behandlungsoptionen. Jede der einzelnen Wohlstandskrankheiten zeigt klare individuelle Unterschiede und wird nicht nur durch den ungesunden Lebensstil, sondern auch durch die Genetik, also das Erbgut, und durch die Epigenetik verursacht. So ist nicht jede dieser Krankheiten identisch in Bezug auf Auftreten, Ausprägung und Verlauf. Beim Typ-2-Diabetes (auch Altersdiabetes genannt) lassen sich zum Beispiel mindestens 5 verschiedenen Formen unterscheiden. Auch die anderen Wohlstandkrankheiten zeigen eine Heterogenität, die wir in Zukunft möglichst früh mit Hilfe spezifischer Faktoren (sogenannter Biomarker) erkennen möchten.
Welche Fortschritte hat die Forschung dabei erzielt?
Schürmann: Mit Hilfe bevölkerungsweiter und experimenteller Untersuchungen wurden bereits viele Gene identifiziert, die zur Entwicklung von Fettleibigkeit und Diabetes und anderen Wohlstandskrankheiten beitragen. Die Rolle der Epigenetik fangen wir im Moment erst an zu verstehen. Unter Epigenetik versteht man eine Veränderung der Genaktivität, ohne dass sich die DNA-Sequenz verändert. Man kann sich dies wie einen Lichtdimmer vorstellen, mit dem die Helligkeit verändert wird. Einige der epigenetischen Veränderungen, ausgelöst z.B. durch fett- und zuckerreiche Ernährung, werden auch auf die nächste Generation übertragen und tragen so zur vorgeburtlichen Programmierung bei. Eines der Ziele der Forschung ist es, zu klären, welche epigenetischen Effekte sich korrigieren lassen und wie, also durch welche Diäten oder Trainingsprogramme.
Sind Tierversuche dazu erforderlich?
Schürmann: Ohne Tierversuche lassen sich die Ursachen von Wohlstandskrankheiten und das Zusammenspiel der verschiedenen Organe nicht klären und auch therapeutische Ansätze nicht finden und testen. Natürlich versuchen wir Forscher in großen Teilen Zellkulturexperimente einzusetzen, die helfen, eine Reihe zugrunde liegender Ursachen zu verstehen. Aber alle Wohlstandskrankheiten sind komplexe Erkrankungen, an denen neben einer zellulären Fehlfunktion ein Zusammenspiel verschiedener Zellen und Organe sowie das diverser Gene häufig in Interaktion mit der Ernährung und dem Lebensstil beteiligt sind. Zur Identifizierung von Krankheitsgenen, epigenetischen Veränderungen und zur Klärung der Frage, welche Nahrungskomponenten unter bestimmten Umständen Krankheiten auslösen, nutzen wir Forscher bestimmte Tiere, meist Mäuse, die ein dem Menschen vergleichbaren Stoffwechsel und Krankheitsverlauf zeigen. Das Ziel der Versuche ist es, die Kenntnisse auf den Menschen zu übertragen und schließlich Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Diabetes und Herz-Kreislauf-Krankheiten zu vermeiden oder optimal zu behandeln.
Wenn sich alle Menschen gesund ernähren würden, müssten Wohlstandskrankheiten dann noch erforscht werden?
Schürmann: Wohlstandserkrankungen müssten auch in diesem Fall weiter erforscht werden, da sie nicht ausschließlich auf schlechte Ernährung zurückzuführen sind. An Fettleibigkeit, Bluthochdruck oder anderen Wohlstandserkrankungen leiden auch Menschen, die sich gesund ernähren und wenig Fett und Zucker zu sich nehmen. Durch unsere Forschungen wollen wir Forscher verstehen, wie die vor der Geburt einsetzende Programmierung eines ungesunden Stoffwechsels korrigiert werden kann.
Übrigens ist schon die Definition einer gesunden Ernährung nicht einfach; da haben viele Menschen und auch Forscher unterschiedliche Vorstellungen. Seit mehreren Jahrzehnten versuchen Ärzte, Ernährungsberater und Forscher in gezielten Programmen, die Hauptursachen der Wohlstandskrankheiten, das Übergewicht und die Fettleibigkeit durch Aufklärungen und Schulungen zu bekämpfen, leider ohne breiten Erfolg. Forschungsziele sind deshalb unter anderem, zu klären, wie der Hunger unterdrückt (beziehungsweise normalisiert) werden kann, wie essensgesteuerte Belohnung umgangen werden kann oder mit welchen Maßnahmen sich die durch Übergewicht bedingten Folgeerkrankungen vermeiden oder abschwächen lassen.