Die Spitzenforschung in Deutschland wird maßgeblich aus öffentlichen Mitteln finanziert. Wissenschaftliche Forschungseinrichtungen erhalten Geld, um Forschungsprojekte direkt oder nach wettbewerblichen Auswahlverfahren zu finanzieren. Im Bereich der biologischen und biomedizinischen Forschung werden neben vielen anderen Methoden auch Tierversuche eingesetzt. Der Staat fördert also auch den Einsatz von Tieren in der Forschung. Zu ausgeprägt, finden Tierschutzgegner*innen, die behaupten, über 98 % der Fördermittel würden für Tierversuchsprojekte aufgewendet. Nur gut 1 % flössen hingegen in die Entwicklung und Anwendung tierversuchsfreier Alternativen. Eine solche Rechnung erscheint jedoch irreführend, denn sie lässt ganz wesentliche Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeitsweise außer Acht, erläutert der Artikel im „Kompass Tierversuche 2023“ ab Seite 21. Nachstehend haben wir dazu einige nützliche Hintergrundinformationen zusammengetragen.
Alternativmethode und trotzdem Tierversuch
Ein Beispiel mag erläutern, dass es oft nicht möglich ist, eine Abwägung zu treffen, ob und wann der Verzicht auf den Einsatz von Tieren ein Fortschritt ist. Das Forschungsteam um Prof. Stefan Schlatt von der Universität Münster hat über viele Jahre Verfahren entwickelt, um während einer Krebstherapie die schädliche Wirkung von Bestrahlung auf den Hoden besser zu untersuchen:
Das Forschungsteam um Prof. Stefan Schlatt von der Universität Münster hat über viele Jahre Verfahren entwickelt, um während einer Krebstherapie die schädliche Wirkung von Bestrahlung auf den Hoden besser zu untersuchen. Hier eignen sich nur Affen als Modell, da das davon betroffene Stammzellsystem im Hoden von Affen mit dem des Menschen vergleichbar ist. Das Stammzellsystem anderer Versuchstiere unterscheidet sich hingegen deutlich, so dass diese klinisch relevante Fragestellung nur an Menschen und Primaten untersucht werden kann.
Um zu erforschen, ob und wie eine Tumorbehandlung von Patienten im Kinder- und Jugendalter Einfluss auf die Stammzellen im Hoden hat, wurden in früheren Studien des Teams präpubertäre Affen lokal bestrahlt und die Wirkung dieser Behandlung untersucht. Damit dosisabhängige Effekte beobachtet werden konnten, wurden Gruppen von Tieren unterschiedlichen Dosen ausgesetzt und Kontrollgruppen eingesetzt. Typischerweise waren so 15 – 30 Tiere für diese Studien notwendig.
Xenotransplantation vermeidet direkte Bestrahlung
Als tierschonendere Alternative entwickelte die Arbeitsgruppe die Transplantation von Hodengewebe von Affen auf immundefiziente (d.h. immungeschwächte) Mäuse (Xenotransplantation). Kleine Gewebefragmente werden unter die Rückenhaut der Maus transplantiert und wachsen dort zu Minihoden aus, die dann mit allen gängigen Verfahren analysiert werden können. Die Gewebestücke wurden nach der operativen Entnahme bestrahlt und dann in die Mäuse transplantiert. Die Vorteile: Tiere werden bei diesen Versuchsansätzen nicht bestrahlt. Das Hodengewebe der Affen kann zum Beispiel durch Kastration erhalten werden.
Statt 15 – 30 Affen werden in diesen Ansätzen nur zwei bis fünf Affen eingesetzt, für Gewinnung des Gewebes. Allerdings müssen pro Experiment 30 – 40 Mäuse transplantiert werden, die schlussendlich eingeschläfert werden. Mit den üblichen 3R-Kriterien ist diese Alternative nur schwierig zu bewerten: Die Zahl der eingesetzten Affen wird deutlich reduziert, dafür sterben Mäuse. Schmerzen und Leiden sind für Affen weitgehend eliminiert, für Mäuse aber vorhanden. Das Refinement der Methoden limitiert für beide Spezies die Belastung durch optimale Haltung, Operations- und Anästhesieverfahren. Obwohl Bestrahlungseffekte untersucht werden können, erfährt kein Tier eine Strahlenexposition. Ob dies als Fortschritt im Sinne des Tierschutzes anzusehen ist, hängt sicherlich von der Sichtweise ab, mit der diese Verfahren beurteilt werden.
Tierversuch als gute Alternative zum Tierversuch
Das Beispiel zeigt auf mehreren Ebenen, wie schwer die Trennung zwischen Alternativmethoden und Tierversuchen ist. Zweifellos hat die entwickelte Alternative Vorteile gegenüber der herkömmlichen Versuchsanordnung. Denn zum einen setzen die Forschenden deutlich weniger Affen ein, zum anderen wird kein Tier direkter Bestrahlung ausgesetzt. Die Alternativmethode bleibt aber dennoch ein Tierversuch. Die Entwicklung der Methode führt also eindeutig zu weniger Tierleid – unterm Strich bleibt sie aber trotzdem ein Tierversuchsprojekt.
Weiterführende Links
Zahlen zur staatlichen Forschungsförderung in Deutschland:
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Forschung-Entwicklung/inhalt.html#234658
https://www.bundeshaushalt.de/DE/Home/home.html
Interview mit Prof. Brigitte Vollmar (DFG):
Im Interview spricht die Vorsitzende der DFG-Senatskommission für tierexperimentelle Forschung über die Projektförderung bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Bei etwa ein Drittel aller Projektanträge in den Lebenswissenschaften werden Mittel für Versuchstiere beantragt.
https://www.dfg.de/dfg_magazin/aus_gremien_politikberatung/dossier_tierexperimentelle_forschung/02_forschung_interview_vollmar/index.html
Informationen über die Fröderbedingungen der Britische Organisation „Wellcome Trust“:
Der Wellcome Trust unterstützt ausdrücklich auch Projekte mit Tierversuchen, „wenn die Forschenden nachweisen können, dass diese rechtlich, ethisch und wissenschaftlich gerechtfertigt sind“. Laut eigener Statistik beinhalten nur rund ein Fünftel aller durch geförderten Projekte auch Tierversuche:
https://wellcome.org/what-we-do/our-work/wellcome-grantsinvolving-animal-research
Sitzung des Gremiums für die Zukunft von Wissenschaft und Technologie (Panel for the Future of Science and Technology, STOA) des Europäischer Forschungsrat (ERC):
Präsidentin Maria Leptin beziffert die Anzahl der Projekte mit Tierversuchen auf etwa 1.000 aus einer Gesamtzahl an ERC-Förderprojekten von rund 10.000. In gerade einmal 10 % der geförderten Projekte haben Forschende also – neben dem Einsatz anderer Methoden – auch Tierversuche durchgeführt.
https://multimedia.europarl.europa.eu/en/webstreaming/panel-forfuture-of-science-and-technology_20220628-1400-SPECIAL-STOA
Nobelpreisträger Shin‘ya Yamanaka:
Yamanaka wäre es ohne Entdeckung und Beschreibung der verschiedenen Stammzelltypen nicht möglich gewesen, Körperzellen in sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPSC) zu programmieren. Diese Entdeckung aus der Stammzellforschung bildet die Grundlage für viele aktuelle Ersatzmethoden, wie etwa menschliche Organoide oder Organchips.
https://www.zeit.de/wissen/2012-10/nobelpreis-medizin-preistraeger
https://www.spektrum.de/lexikon/biologie-kompakt/die-forschung-an-embryonalen-stammzellen/3560
3R-Förderung Charité Berlin:
Die Charité Berlin kündigte kürzlich an, zusätzlich zum Verbund „Charité 3R“ zehn neue Projekte zur Erforschung von Alternativen zu Tierversuchen mit 1,3 Millionen Euro zu fördern.
https://www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/13_millionen_euro_fuer_zehn_neue_forschungsvorhaben_im_3r_bereich/