„Dürfen wir Tiere töten, damit Menschen nicht mehr sterben müssen?“ Über diese Frage haben Schüler nach dem Vorbild einer englischen Unterhausdebatte auf der Ideenexpo 2017 in Hannover diskutiert. Das Thema bewegte die jungen Menschen nicht nur emotional, sondern versetzte sie wortwörtlich in Bewegung.
Bei Debatten im britischen Unterhaus wird oft pointiert und leidenschaftlich, aber stets fair, diskutiert. Der Clou: Die Teilnehmer bringen sich aktiv ein, indem sie sich demonstrativ hinter die Person setzen, deren Meinung sie unterstützen. Angelehnt an dieses Format hat „Tierversuche verstehen“ eine Unterhausdebatte mit rund 35 Schülern im Alter von 15 bis 17 Jahren veranstaltet. Zwei Experten lieferten gegensätzliche Antworten zur Frage, ob man Tiere töten darf, um damit kranken Menschen zu helfen.
Die Experten zum Thema Tierversuche
Florian Dehmelt ist Forscher am Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) in Tübingen, sowie Gründungsmitglied bei „Pro-Test Deutschland e.V.“, einem Verein von zumeist jungen Wissenschaftlern. Er sagt: „Wenn wir die berechtigte Hoffnung haben, dass durch Tierversuche menschliches Leiden verringert werden kann, dann dürfen wir sie nicht bloß machen, dann müssen wir es sogar.“
Mailin Waldecker studiert Medizin in Heidelberg und absolviert gerade das Praktische Jahr in Dresden. Sie engagiert sich unter anderem in der AG „Tierversuchsfrei forschen“ der Stipendiaten der Heinrich-Böll Stiftung und sagt: „Ich habe noch keine überzeugende Methode gefunden, welche Leid messen könnte und zeigt, dass menschliches Leid größer oder schwerwiegender ist als tierisches Leid. So lange sind Tierversuche für mich daher ethisch nicht vertretbar.“
Moderiert wurde die Debatte von dem Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten Jan-Martin Wiarda, der die Stimmung im Raum beobachtete und die Diskussion vorantrieb.
Zunächst stellten die beiden Experten ihre jeweilige Position in einem kurzen Impulsvortrag vor. Danach entschieden sich die Teilnehmer zum ersten Mal für eine Seite. Das sorgte für eine Überraschung: Die Aufteilung verlief fast vollständig entlang der Geschlechtergrenze. Während sich die meisten jungen Frauen demonstrativ hinter die Medizinerin stellten, versammelten sich die meisten jungen Männer hinter dem Forscher.
Gedankenexperimente in der Unterhausdebatte
Die darauf folgende Debatte verlief kontrovers, war aber stets sachlich und respektvoll. Zur Darstellung der moralischen Zwickmühlen des Themas wurde unter anderem auf klassische ethische Dilemmata ähnlich dem „Weichenstellerfall“ zurückgegriffen: „Angenommen sowohl ein Mensch als auch ein Hund säßen in einem brennenden Haus, aber ihr könnt nur einen von beiden retten, bis das Feuer das Haus vernichtet. Und was wenn der Mensch Adolf Hitler ist und der Hund ist dein Hund?“ Daran wurde deutlich, dass eine ethische Abwägung zwischen Mensch und Tier stark von der emotionalen Bewertung der Ausgangslage abhängt. Eine Schülerin verwies dazu auch auf das Theaterstück bzw. den ARD-Film „Terror“, in denen ein ethisches Dilemma in der Fokus rückt, das ihrer Meinung nach Parallelen zum Thema Tierversuche aufweist: Dürfen wir den Tod von einigen Menschen in Kauf nehmen, wenn dadurch eine größere Menge Menschen gerettet werden?
Anhand solcher Gedankenexperimente verdeutlichten sich die unterschiedlichen Positionen: „Tierversuche sind nicht nur gerechtfertigt, sondern können unter gewissen Umständen eine ethische Verpflichtung sein“, argumentierte Neurobiologe Florian Dehmelt, der selbst an Fischen forscht. Es sei unmoralisch die Hoffnung auf Linderung von menschlichem Leid durch ein Verbot von Tierversuchen zu schmälern. Er sehe Speziesismus oft als unvermeidbar – und sei daher bereit, zwischen Menschen und Tieren einen moralischen Unterschied zu machen.
Mailin Waldecker, die im täglichen Umgang mit Patienten auch an Grenzen der menschlichen Würde stößt, sah das anders: „Von allen Eigenschaften die uns zum Menschen machen, ist keine allumfassend und exklusiv menschlich. Da wir Versuche aber zu Recht an schwer behinderten Menschen oder Säuglingen ablehnen, müssen wir den Maßstab ebenso auf Tiere anwenden. Auch wenn das zur Erkenntnis führt, dass wir Krankheit nicht um jeden Preis bekämpfen können“. Für Menschen könne Würde in kritischen Fällen auch bedeuten, einen würdevollen Tod zu sterben, anstatt mit allen Mitteln den Tod hinauszuzögern.
Als eine Schülerin die Position vertrat, dass der Mensch Tieren doch auch in sehr vielen anderen Bereichen Leid zumuten würde, setzte Florian Dehmelt die Anzahl der Tiere, die jährlich in Versuchen eingesetzt werden, in einen Zusammenhang: „Etwa alle 30 Jahre wird für jeden von uns eine Maus getötet. Die Zahl der Tiere, die wir essen, liegt deutlich höher.“ Beide Experten waren sich jedoch einig, dass dies keine Entschuldigung sein könne: „Wir können etwas Schlechtes nicht mit dem Hinweis auf etwas noch Schlechteres rechtfertigen“, so Mailin Waldecker.
Emotionale Gruppendiskussion mit eindeutigem Ergebnis
Nach diesem ersten Schlagabtausch wurde die Diskussion immer lebhafter. Die Schüler wechselten nun auch konsequenter die Seiten und mischten sich in die Diskussion ein. So teilten sie den Debattierenden mit, was sie von ihren Argumenten hielten, und stellten wichtige Fragen. Dabei wurde deutlich, dass bei ihnen einerseits enge Beziehungen zu Haustieren, andererseits Beziehungen zu sich selbst und Mitmenschen im Mittelpunkt ihrer ethischen Überlegungen stehen. „Ich kann mich mit einem Säugling oder einem Menschen mit Behinderung identifizieren, aber nicht mit einer Maus“, so ein Schülerkommentar. Ein anderer Schüler, der sich gerade zur Seite „Pro Tierversuche“ gewandt hatte, betonte: „Wenn ich krank bin, möchte ich natürlich, dass man mir helfen kann.“ Mailin Waldecker ging darauf ein: „Die Beziehung zu einem Tier oder einem Menschen ist zwar extrem wichtig für ein individuelles moralisches Urteil, aber normative Entscheidungen für die Allgemeinheit dürfen wir daraus nicht ableiten.“ Doch dieses Argument konnte die meisten Schüler nicht zu einem Seitenwechsel bewegen.
Im Verlauf der Debatte mischten sich auch die begleitenden Biologie-Lehrer ein: Der „Schwarze Peter“ würde den Wissenschaftlern zugeschoben, wenn ihnen einerseits ethisch falsches Handeln unterstellt würde, andererseits aber neue Medikamente und Therapien dankend angenommen würden, meinten sie. Denn sobald sie einmal in der Welt seien, wäre es ja unmoralisch sie nicht zu benutzen. Diesen Vorwurf wollte die Medizinerin Waldecker nicht gelten lassen: „Wir nutzen ja auch Medikamente, die durch unmoralische Menschenversuche entstanden sind, etwa in den Konzentrationslagern der Nazis. Das bedeutet aber nicht, dass dies weitere solche Versuche rechtfertigt.“
Mehrheit der Schüler stellt sich hinter Tierversuche
Nach Ablauf der 90-minütigen Diskussionszeit hatte sich eine deutliche Mehrheit auf die Seite des Tübinger Neurobiologen Dehmelt begeben. Jana (17) aus Hamburg hingegen verharrte während der gesamten Zeit bei der angehenden Ärztin. „Ich habe selbst drei Hunde als Haustiere und könnte es nicht ertragen, wenn diese für Versuche leiden müssten. Tieren Leid anzutun, finde ich einfach falsch“, begründete die Oberstufenschülerin. In vielen Fällen seien Schmerzen bei einem Tier nicht direkt für Menschen erkennbar, daher wüssten wir nicht, wie stark ein Tier leidet. Das mache die Abwägung „Mensch gegen Tier“ praktisch unmöglich. Damit folgte sie Waldeckers Argument: „Wenn wir nicht zwischen Tier und Mensch abwägen dürfen, dann müssen wir lernen, menschliches Leid zu akzeptieren.“ Eine Meinung, die jedoch nur eine Minderheit überzeugen konnte.
Die beiden Experten zogen nach dem Ende der Unterhausdebatte eine positives Fazit: „Besonders schön war, dass die Schüler gemerkt haben: Es ist OK, seine Meinung zu ändern“, zeigte sich Florian Dehmelt von dem Format überzeugt. Auch Mailin Waldecker gab sich beeindruckt: „Es war eine sehr positive Erfahrung für mich, dieses emotionale Thema auf eine äußerst wertschätzende Art zu diskutieren“, meinte sie.
- Weitere Informationen zum Thema Tierversuche im Unterricht finden Sie auch auf unserer Seite für Schüler und Lehrer