Der Fall Contergan – hätten sich die Abläufe wiederholt?

Im Jahr 1957 kam ein vielversprechendes Medikament auf den Markt – Contergan, Entwickelt von der Firma Grünenthal GmbH. Ein Schlaf- und Beruhigungsmittel, welches auch gegen Schwangerschaftsübelkeit wirkte. Contergan konnte in Westdeutschland rezeptfrei erworben werden und wurde millionenfach, auch von Schwangeren, eingenommen. Daraufhin wurden in Deutschland und weltweit tausende Kinder mit Missbildungen geboren. Kann sich so etwas heute wiederholen?

Die ersten gehäuften Missbildungen bei Neugeborenen traten bereits 1958 auf. Der Bayreuther Kinderarzt Karl Beck vermutete in einem Zeitungsartikel zunächst einen Zusammenhang mit Kernwaffentests, niemand dachte in dieser Situation an Nebenwirkungen eines neuen Medikaments. Erst Ende 1960 fanden die Ärzte Widukind Lenz und William McBride unabhängig voneinander heraus, dass bei Neugeborenen ein Zusammenhang zwischen gehäuften Fehlbildungen sowie Nervenschädigungen und dem Mittel Contergan bestand; beide veröffentlichten ihre Erkenntnisse. Ihre Berichte und weitere Verdachtsfälle führten dazu, dass Grünenthal im August 1961 wegen möglicher neurologischer Schäden die Rezeptpflicht für das Schlafmittel beantragte. Erst Ende 1961 nahm die Firma das Medikament in Deutschland schließlich vom Markt. Bis dahin kamen allein in Deutschland ca. 5.000 geschädigte Kinder auf die Welt. Die Zahl der Fehlgeburten ist hier noch nicht mit eingerechnet. In insgesamt 48 Ländern war der Wirkstoff von Contergan, Thalidomid, unter verschiedenen Vertriebsnamen zugelassen. Darunter auch in Österreich, in der Schweiz, in Spanien und in Großbritannien. Weltweit wurden um die 10.000 Fälle von Missbildungen bei Neugeborenen aufgrund der Einnahme des Wirkstoffs gemeldet.

Thalidomid stört die Ausbildung von Organen

In der damaligen DDR jedoch wurde Contergan nie zugelassen. Die Gutachter vermuteten, dass Thalidomid die normale Entwicklung des Fötus stören könnte. Thalidomid ist eine Abwandlung der so genannten Glutaminsäure (umgangssprachlich als Glutamat bezeichnet); Glutamat stand schon damals im Verdacht, bei einer übermäßigen Einnahme die normale Entwicklung des Fötus stören zu können. Die Produktion und Markteinführung wurde daher von Gutachterausschuss für Arzneimittelverkehr abgelehnt. Dieser Verdacht stellte sich später als berechtigt heraus – Contergan führte bei Einnahme in der Schwangerschaft, je nach Zeitpunkt der Einnahme, zu einer gestörten Bildung oder dem vollständigen Fehlen von Organen und Gliedmaßen sowie zu Einschränkungen der Gehirnfunktion. Heute weiß man, dass Thalidomid zur Zerstörung von Proteinen im Körper des Ungeborenen führt, die zur Ausbildung von normalen Gliedmaßen erforderlich sind.

Nie zugelassen in den USA

In den USA wurde der Wirkstoff Thalidomid, hier unter dem Namen „Kevadon“, nie zugelassen. Eine Gutachterin der Food-and-Drug Administration, France Oldham Kelsey, bemängelte im Zulassungsantrag der Firma Grünenthal GmbH fehlende Daten zur Sicherheit. Sie forderte den Wirkstoff an schwangeren Tieren zu testen, bevor er für schwangere Frauen zugelassen werden könne. Der Hersteller Grünenthal weigerte sich, solche Daten nachzureichen, und zog die Beantragung auf Zulassung nach 6-maligem Versuch schließlich 1962 zurück. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits Hinweise auf die schweren Nebenwirkungen von Thalidomid. France Oldham Kelsay bekam für ihre berechtigte Skepsis den President’s Award for Distinguished Federal Civilian Service bei einer Zeremonie im Weißen Haus. 17 Neugeborene mit Missbildungen wurden dennoch in den USA geboren, da Grünenthal mit dem Zulassungsantrag gratis Proben des Wirkstoffs verteilt hatte.

Impfstoff
Jedes neue Arzneimittel muss laut deutschem Arzneimittelgesetz umfangreich geprüft werden.

Folgen für die Arzneimittelentwicklung

Der Wirkstoff Thalidomid im Arzneimittel Contergan wurde damals für schwangere Frauen zugelassen, ohne zuvor jemals an schwangeren Tieren getestet worden zu sein. Aufgrund der im Fall Contergan nicht erkannten fruchtschädigenden Wirkung wurden die Richtlinien für die Prüfung von neuen Arzneimitteln verschärft. Seit diesem Vorfall sind Tests auf so genannte Teratogenität, also das Hervorrufen von Missbildungen bei Ungeborenen, fester Bestandteil des vorklinischen Testprogramms. Im ersten deutschen Arzneimittelgesetz wurde 1978 die Prüfung auf Teratogenität verankert. 1975 wurde eine Behörde zur Prüfung der Medikamentenkontrolle errichtet, das heutige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Insgesamt umfasst das vorklinische Testprogramm heutzutage Tests auf akute Giftigkeit für Organe und Nerven, das Auslösen von Krebs (Kanzerogenität), die Veränderung des Erbguts (Mutagenität), Missbildungen bei Embryonen und Föten (Teratogenität) und auf Unfruchtbarkeit. Die Tests sind eine Mischung aus Tierversuchen und tierversuchsfreien Technologien wie Zellkulturen oder Hühnereier. Wird nachgewiesen, dass ein Wirkstoff die Entwicklung des Embryos stört, wird die vorklinische Prüfung in der Regel abgebrochen. Es sei denn, es handelt sich um eine sehr schwere Krankheit, für die es bisher noch keine Medikamente gibt. In diesem Fall wird der Wirkstoff weiter geprüft und gegebenenfalls auf den Markt gebracht, aber ausdrücklich nicht für Schwangere zugelassen. Ärzt*innen müssen entsprechend geschult werden.

Contergan heute

Nachdem Contergan in Deutschland vom Markt genommen wurde, wurde es unter dem Namen „Softenon“ in Spanien vertrieben. Die Firma Grünenthal GmbH hatte den Wirkstoff Thalidomid bis Mai 1962 als „Schüttware“ nach Spanien geliefert – ohne jegliche Warnung. Verpackung und Vertrieb haben einheimische Firmen übernommen. Erst durch Presseberichte über den Contergan-Skandal in Deutschland wurde der Wirkstoff in Spanien wieder vom Markt genommen. Durch eine fehlende Aufklärung über die Nebenwirkungen gab es daraufhin in Spanien insgesamt rund 3.000 geschädigte Kinder. Auch in anderen Teilen der Welt ist Thalidomid heute noch ein Thema. Der Wirkstoff ist gegen die schwere Erkrankung Lepra zugelassen, als letzte Alternative zur Amputation. Es wird bei der Verschreibung explizit darauf geachtet, dass eine Schwangerschaft vollkommen ausgeschlossen werden kann. Dennoch gelangt das Arzneimittel durch Weitergabe immer wieder in die Hände von Schwangeren. Inzwischen ist auf der Verpackung das Bild eines Neugeborenen mit missgebildeten Gliedmaßen abgedruckt, so dass auch Bevölkerungsschichten, die nicht lesen und schreiben können, die Warnung verstehen.

Heutige DART-Studien

DART (Developmental and Reproductive Toxicity) -Studien umfassen alle Untersuchungen, die notwendig sind, um das Risiko eines Arzneimittels auf die Fortpflanzung von Säugetieren aufzudecken. Diese Studien sind verpflichtend, um die Zulassung eines Arzneimittels zu beantragen. Heutzutage werden für diese Studien hauptsächlich Nagetiere (Ratten, Mäuse) und Kaninchen eingesetzt. In einer Richtlinie (Guidline ICH S5 (R3)guideline on reproductive toxicology: Detection of Toxicity to Reproduktion for Human Pharmaceuticals) der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) ist genau festgelegt, welche Aspekte dabei getestet werden müssen. Die Studien auf Teratogenität werden in drei Bereiche unterteilt. Zum einen werden die Fruchtbarkeit der Elterntiere und die frühe Embryonalentwicklung untersucht. Anschließend wird die späte Embryonalentwicklung bis zur Geburt untersucht und zu guter Letzt die Entwicklung der Nachkommen bis zur Geschlechtsreife begleitet. Oft werden diese Studienabschnitte miteinander kombiniert. Am Ende kann eine Aussage darüber getroffen werden, ob ein Wirkstoff sich auf die Fortpflanzung und die Nachkommen auswirkt.

Es ist darüber hinaus vorgeschrieben, dass diese Untersuchungen an zwei Tierarten durchgeführt werden müssen: einer Nagetierart (meist Ratte) und einer nicht-Nagetierart (oft Kaninchen). Voraussetzung ist, dass der Wirkstoff bei den ausgewählten Tierarten ebenfalls eine Wirkung zeigt. Ein Impfstoff sollte zum Beispiel bei der Tierart das Immunsystem auf die gleiche Weise aktivieren wie beim Menschen. Sollte das bei den üblichen Tierarten nicht der Fall sein, wird für solche Untersuchungen auch auf Primaten ausgewichen. Für die geeignete Tierart muss immer eine genaue Abwägung getroffen werden, damit ein Rückschluss auf das Risiko für den Menschen gezogen werden kann.

Ein weißes Kaninchen im Käfig.
Bei Kaninchen zeigt sich die schädliche Wirkung von Thalidomid, Foto: Understanding Animal Research

Aus der Vergangenheit lernen – Hätte man den Fall Contergan heute verhindern können?

Der Fall Contergan und die zahlreichen geschädigten Kinder haben schmerzlich aufgezeigt, wie wichtig eine ausführliche Prüfung von neuen Wirkstoffen vor dem Einsatz am Menschen ist. Durch die heute sehr strengen Richtlinien und Vorprüfungen im Tierversuch kann es zu so einem Vorfall nicht mehr kommen – Stört ein Wirkstoff die Entwicklung der Nachkommen, wird das frühzeitig in den präklinischen Studien entdeckt. Eine Prüfung des Wirkstoffs Thalidomid hätte den Skandal verhindern können. Spätere Prüfungen an schwangeren Tieren konnten die Teratogenität eindeutig belegen. Zwar zeigt sich die schädliche Wirkung auf die Ungeborenen nicht bei Ratten, jedoch bei Kaninchen und Primaten.

Quellen
Frau und Fragezeichen

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