Der Tintenfisch Sepia officinalis kann in Bruchteilen einer Sekunde die Farben wechseln. Das außergewöhnliche Tier erhält auch als Versuchstier außergewöhnlichen Schutz.
Der Tintenfisch ist uns so nah, einerseits. Ein Augentier wie wir Menschen, scheint er uns durch seine W-förmigen Pupillen aufmerksam zu mustern. Seine vielarmige Schnauze verleiht ihm beinahe gutmütige Züge. Lächelt er uns nicht gelassen zu, wie er so mit fächelndem Flossensaum elegant durchs Wasser gleitet, zwei Tentakel wie zum Gruß erhoben? Sepia officinalis, der etwa handgroße „Gewöhnliche Tintenfisch“, ist alles andere als gewöhnlich und nach allem, was wir wissen, ein intelligentes Tier.

Der Tintenfisch ist uns so fern, andererseits. Bereits vor mehr als 600 Millionen Jahren trennten sich die Wege, lebte der letzte gemeinsame Vorfahr. Mit den Fischen ist der Mensch weitaus näher verwandt als mit dem Tintenfisch (der übrigens kein Fisch ist). Sepias Augen (wie die anderer Kopffüßer) haben sich unabhängig von denen der Wirbeltiere entwickelt, ebenso wie seine geistigen Fähigkeiten. Mit seinen zehn mit Saugnäpfen besetzten Tentakeln oder „Kopfarmen“, von denen zwei als blitzschnelle „Beutegreifer“ fungieren, einem die Weichteile schützenden schildförmigen Rückenknochen aus Kalk namens Schulp, der Tinte, die zur Verwirrung anderer Tiere ausgestoßen wird, sowie dem kräftigen und tödlichen Hornschnabel ist Sepia der lebende Beweis für den Einfallsreichtum der Evolution.
Auf zwei Wegen ins Ziel
Als wirbelloses Tier besitzt Sepia kein Rückenmark, das geschützt im Kanal der Wirbelsäule entlangläuft und Signale von und zum Gehirn leitet. Das Gehirn des Tintenfischs konzentriert sich ringförmig rund um den Schlund in zwei Zentren, von denen eines vor und eines hinter der Speiseröhre liegt. Zudem besitzt das Tier neben weiteren Nervenknoten (vor allem in den Tentakeln) auffällig große bohnenförmige „Sehlappen“, in denen Nervenzellen die optischen Impulse verarbeiten. Ein Augentier eben. Trotz seines dezentralen Denkorgans lassen sich Parallelen zum zentralisierten Gehirn von Wirbeltieren finden. Wie beim Auge ist dies Ausdruck einer parallelen, „konvergenten“ Entwicklung: auf verschiedenen Wegen zum gleichen Ziel.
Unter den wirbellosen Tieren sind Kopffüßer geistig am weitesten entwickelt. Wahrnehmung, Lernvermögen und Gedächtnis sind vermutlich denen mancher Wirbeltiere vergleichbar. Diese Fähigkeiten haben die Tiergruppe seit langer Zeit zu einem interessanten Studienobjekt für die Erforschung des Nervensystems gemacht.
Kopffüßer auf einer Stufe mit Wirbeltieren
Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Union (EU) 2010 auch Kopffüßer in ihre Versuchstierschutz-Richtlinie 2010/63/EU einbezogen. Dies wird in der Richtlinie damit begründet, dass es wissenschaftliche Belege dafür gebe, dass diese Tiere „Schmerzen, Leiden und Ängste empfinden sowie dauerhafte Schäden erleiden können“. Damit ist erstmals eine ganze Gruppe wirbelloser Tiere mit annähernd 700 bekannten Arten unter den gleichen Schutz wie Wirbeltiere gestellt worden. Ein wesentlicher Grund für den Biologen Dr. Johannes Pucher, am Deutschen Zentrum zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R) in Berlin-Marienfelde die Haltung und Zucht von Sepia officinalis zu erforschen.
Gute Haltung für ein gutes Leben
Bei seiner Arbeit ist das Bf3R den 3R-Grundsätzen verpflichtet. 3R steht für „Reduction“ (das Verringern von Tierversuchen), „Replacement“ (das Ersetzen von Tierversuchen) und „Refinement“ (das Verbessern). Bei der Haltung der Sepien geht es um das Refinement, um gute Lebensbedingungen für Versuchstiere und das Verringern von Belastungen.
Eine der wichtigen Grundbedingungen für ein gutes Gedeihen ist die Wasserqualität. Am Bf3R ist es möglich, die Wassereigenschaften sehr genau auf die Bedürfnisse der Tiere auszurichten – etwa die Temperatur, den Salzgehalt, den pH-Wert und die Stickstoffkonzentration. Das am Bf3R benutzte Wasser wird zunächst entsalzt (entionisiert), um dann „Meerwasser nach Maß“ herzustellen. Johannes Pucher kommen dabei seine Erfahrungen mit Forschungsprojekten zu Aquakulturen mit verschiedenen Tierarten zugute, in denen die Wasserqualität immer ein bedeutender Faktor ist.
Die giftige Seite der Sepien

Nicht weniger wichtig für ihr Wohlbefinden ist die Ernährung der Tiere, die zum großen Teil aus Garnelen und Fischen besteht. Pucher sucht nach Alternativen für solches Lebendfutter. Durch die Anordnung des Gehirns um den Schlund kann Sepia größere Beutetiere nicht einfach schlucken. „Das Gehirn würde zerreißen“, erläutert Pucher. Krabben oder voluminöse Fische werden stattdessen mit den Tentakeln umklammert, mit dem „Papageienschnabel“ geöffnet und mit einem Gift gelähmt. Danach werden die Beuteteile mit Enzymen vorgelöst und so für Sepia aufnehmbar gemacht.
Bei der Jagd nach Beute kommt die vielleicht spektakulärste Eigenschaft der Sepien ins Spiel. Es ist ihr Talent, die Hautfarbe innerhalb von Sekundenbruchteilen zu ändern – sei es, um sich zu tarnen, Fressfeinden zu drohen, das Revier zu verteidigen oder sich mit Artgenossen auszutauschen. Die „kommunizierende Haut“ ist nichts weniger als ein Naturwunder. Und als wäre das noch nicht genug, besitzen die Tiere zudem die Fähigkeit, auch die Hautoberfläche blitzschnell zu verwandeln: von glatt nach rau oder stachlig etwa. „Vielleicht können wir in Zukunft an der Haut ablesen, was das Tier beschäftigt“, sagt Johannes Pucher. Sie wird so zu einem Fenster in seine Wirklichkeit und sein Erleben und gibt möglicherweise Aufschlüsse über das Wohlbefinden.
Kopffüßer mit Köpfchen

Kopffüßer wie Sepia officinalis sind in mancher Hinsicht einzigartige Tiere. So ist zum Beispiel das Gehirn ganz anders angeordnet als bei Wirbeltieren – die Speiseröhre führt mitten durch das Denkorgan. Sepien verfügen dennoch über ausgezeichnete Lern- und Merkfähigkeiten, wie sie sonst nur bei Wirbeltieren beobachtet werden. In den vergangenen Jahren sind immer mehr dieser Talente mit Verhaltensexperimenten zutage gefördert worden. So lernen Sepien, eine begehrte, aber durch ein Glasrohr abgeschirmte Garnele nicht mehr anzugreifen. Werden Tintenfische entsprechend trainiert, prägt sich diese Erfahrung – Glasrohr schützt Garnele – sogar dauerhaft in ihr Gedächtnis ein.
Neben einem solchen vergleichsweise einfachen Lernvermögen besitzen Sepien auch ausgeklügelte Talente. Sie haben ein episodisches Gedächtnis und damit die Fähigkeit, sich an bestimmte Ereignisse zu erinnern. Das erleichtert es ihnen, zum Beispiel zu einer bestimmten Tageszeit an einem bestimmten Ort einer Beute aufzulauern. Auch Selbstkontrolle ist ihnen nicht fremd. So können sie sich bei weniger begehrten Beutetieren zurückhalten, falls noch eine bessere Speise winkt – zumindest für ein paar Minuten. Etwas, das selbst Menschen nicht immer gelingt …
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Der Beitrag wurde zuerst im Wissenschaftsmagazins BfR2GO (Ausgabe 2/2024) im Dezember 2024 veröffentlicht.