Prof. Dr. Gerd Kempermann

Tierversuche zeigten, wie sich das menschliche Gehirn verjüngt

Fit und aktiv bis ins hohe Alter – das ist der große Wunsch vieler Menschen. Doch die Realität sieht häufig anders aus: Mit steigendem Alter, steigt auch die Wahrscheinlichkeit für neurologische Erkrankungen wie Alzheimer. Hilft dagegen gesunde Ernährung, viel Bewegung oder etwa Gehirnjogging? Antworten auf diese Fragen gibt die Forschung des Mediziners Gerd Kempermann. Er ist Professor für Genomik der Regeneration am Forschungszentrum für Regenerative Therapien (CRTD) und Sprecher des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Dresden. Kempermann untersucht die Bedeutung von Stammzellen für das Gehirn sowie die adulte Neurogenese, die Bildung neuer Nervenzellen im erwachsenen Gehirn. Ihn interessiert, wie Neurogenese im Hippocampus, der im Gehirn für die Gedächtnisbildung zuständig ist, funktioniert. Dadurch will er unter anderem mehr über die Zusammenhänge mit Krankheiten wie Demenz und Depressionen erfahren.

Herr Prof. Kempermann, vor ein paar Jahrzehnten galt es als undenkbar, dass sich Zellen des erwachsenen Gehirns erneuern können. Wie haben Forscher herausgefunden, dass diese Annahme falsch ist?

Prof. Dr. Kempermann: Das war ein Zufallsbefund, den Joseph Altman Anfang der 1960er Jahre bei Untersuchungen an Ratten gemacht hat. In der Folge hat es dann, vor allem seit Mitte der 1990er Jahre eine Fülle von weiteren Studien dazu gegeben. 1998 wurde die adulte Neurogenese dann auch beim Menschen nachgewiesen. Allerdings konnte dies erst vor wenigen Jahren durch ein immens aufwendiges Verfahren unabhängig bestätigt werden. Dabei machte man sich zu Nutze, dass nach den oberirdischen Atombombentests der 1950er Jahre hohe Konzentrationen Kohlenstoff (C-14) in die Atmosphäre gelangt sind. Diese C-14-Isotope werden bei uns in die DNA sich teilender Stammzellen, die neue Nervenzellen hervorbringen, eingebaut. Da die Kohlenstoff-Konzentration seither kontinuierlich wieder abklingt, kann man den Stoff in den Zellen messen und daraus Rückschlüsse ziehen, wie alt die Zelle ist.

Inwiefern war diese Erkenntnis ein Paradigmenwechsel?

Kempermann: Sie zeigt, dass sich das Gehirn, wenn auch nur punktuell, lebenslang entwickelt. Das betrifft eine Stelle im Gehirn, die zentral in Lern- und Gedächtnisvorgänge involviert ist und für zutiefst menschliche Eigenschaften und Leistungen zentral ist. Das hebt diese Ausnahme von der Regel noch einmal besonders heraus.

Unterscheiden sich die neu gebildeten Nervenzellen von alten?

Kempermann: Anfangs ja, da sind sie plastischer und empfänglicher für Neues. Später unterscheiden sie sich, soweit wir wissen, nicht von den Zellen, die schon länger da sind.

Welche Aufgaben erfüllen die neuen Nervenzellen?

Kempermann: Sie tragen dazu bei, dass Information im Hippocampus mit einer Art Zeitstempel versehen wird und so sortierbar wird. Sie sorgen wohl auch dafür, dass Inhalte, die sehr ähnlich sind und kurz hintereinander eingehen, unterschieden und auch getrennt gelernt werden können. Und schließlich kann man sagen, dass die neuen Zellen dazu beitragen, neue Informationen flexibel in vorbestehende Kontexte zu integrieren – also gewissermaßen ein Update der vorhandenen Information durchzuführen.

Welche Rolle spielt die Neurogenese für Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson?

Kempermann: Das wissen wir noch nicht, aber wir verfolgen die Idee, dass die neuen Zellen eine Art funktionelle Reserve aufbauen, die es erlaubt, die Probleme der abnehmenden geistigen Leistungsfähigkeit länger zu kompensieren.

Können wir die Neurogenese aktiv beeinflussen?

Kempermann: Ja. Aktivität aller Art, körperlich wie kognitiv, steigert die adulte Neurogenese. Bewegung kann daher helfen, vor Demenz zu schützen.

Welche Rolle spielen Tierversuche bei der Erforschung der Neurogenese?

Kempermann: Nahezu alles, was wir wissen, wurde an Mäusen und Ratten entdeckt. Leider gibt es bisher keine bildgebenden Verfahren, die es erlauben, adulte Neurogenese beim lebenden Menschen darzustellen. Wir können und dürfen natürlich beim Menschen keine Experimente durchführen, die in der Lage wären, Vorgänge auf Ebene der Zellen aufzulösen, weil diese Verfahren invasiv sind.

Servan Grüninger spricht über den Nutzen von Tierversuchen. Foto: Boris Jerchow / MDC
Die Entdeckung von Stammzellen gelang in den 1960er-Jahren dank Versuchen an Mäusen. Foto: Boris Jerchow / MDC

Die Untersuchungen, die am Menschen dazu durchgeführt wurden, beruhen alle auf Untersuchungen an Verstorbenen. Damit kann ich aber natürlich nicht den Vorgang der adulten Neurogenese untersuchen. Zur Regulation der Neurogenese bei Menschen ist direkt noch gar nichts bekannt. Je besser wir aber diesen Prozess bei der Maus verstanden haben, desto cleverere Fragen und Hypothesen können wir aufstellen, die wir auch beim Menschen in ähnlicher Form angehen können. So ist das in der Vergangenheit gewesen.

Ein Blick in die Zukunft: Was müsste passieren, damit Wissenschaftler für die Erforschung der Neurogenese auf Tierversuche verzichten könnten?

Kempermann: Wenn ich etwas über komplexe Vorgänge des Lebens lernen will, werde ich immer direkt an diesem Vorgang forschen müssen. Für darauf bezogene Einzelfragen lassen sich sicherlich zum Beispiel Stammzellen benutzen, um Grundprinzipien auf Zellebene zu verstehen. Und wenn es eine nicht-invasive, hochauflösende bildgebende Methode, zum Beispiel mittels Kernspintomographie geben würde, hätte das große Auswirkungen und wir könnten weniger Tiere einsetzen. Aber verschiedene Fragen brauchen immer unterschiedliche Methoden.

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