LifeTime-Initiative, Organoide

LifeTime-Initiative: „Krankheit abfangen, bevor sie einen Angriff startet“

Die LifeTime-Initiative ist ein europäisches Projekt mit dem Ziel, einer neuen, zell-basierten Medizin zum Durchbruch zu verhelfen. Prof. Nikolaus Rajewsky, vielfach ausgezeichneter Systembiologe und Direktor des Berlin Institute for Medical Systems Biology (BIMSB) am Max-Delbrück-Centrum, koordiniert die über 200 internationalen Forschungspartner des Projekts. Im Interview mit Tierversuche verstehen spricht er über die Vision der interceptive medicine, die Krankheiten schon stoppen soll, bevor sie spürbar ausbrechen.

Wie sieht die Zukunft der medizinischen Forschung aus?

Prof. Nikolaus Rajewsky: Um diese Frage zu beantworten, braucht man ja eine Zeitmaschine! Wer weiß schon, welcher Durchbruch uns morgen bevorsteht? Klar ist für mich: Eine wichtige Rolle werden Krankheitsmodelle spielen, die aus menschlichen Zellen gewonnen werden, wie z.B. Organoide. Dabei bildet man bestimmte Aspekte einer Erkrankung mit Zellen von Patientinnen und Patienten modellhaft im Labor nach. Damit kann man immer besser und ganz individuell für den einzelnen Menschen die richtige Therapie finden und testen.

Wie kann diese Idee Realität werden?

Rajewsky: Wir wollen besser verstehen, wie Krankheiten entstehen. Dazu wollen wir in der neuen gesamteuropäischen Initiative LifeTime genau solche Krankheitsmodelle weiterentwickeln und mit anderen Technologien kombinieren. Unser Ziel ist es herauszufinden, welche Zelle genau der Ursprung einer bestimmten Krankheit ist und welcher Prozess in dieser Zelle schiefläuft und vom Standardprogramm abweicht. Wir werden uns also noch mehr auf die Ursachen und den frühen Verlauf von Krankheiten konzentrieren. Denn es geht darum, Ärztinnen und Ärzten das Werkzeug an die Hand zu geben, eine Krankheit „abzufangen“ – auf Englisch „to intercept“- bevor sich schwerwiegende Symptome einstellen und es zu spät ist, die Krankheit wirklich zu heilen.

Unsere Mitglieder haben viele dieser Technologien entwickelt und gehören in ihrer Anwendung zu den Besten der Welt.

LifeTime – das klingt nach einer großen Aufgabe. Was bedeutet der Name?

Rajewsky: LifeTime ist die gemeinsame Vision von über 200 Forschungsinstituten, Firmen, Wissenschaftsakademien und anderen Partnern, die alle die Gesundheitsversorgung in Europa verbessern wollen. Das wollen wir schaffen, indem wir den Fokus auf einzelne Zellen legen. Das kann aber keine Momentaufnahme sein, sondern wir müssen den molekularen Werdegang einzelner Zellen in unserem Körper von ihrer Entstehung bis zu ihrem Tod verstehen, über ein ganzes Menschenleben hinweg – daher der Name LifeTime. Nur mit diesem Wissen können wir Abweichungen erkennen und ihnen entgegenwirken. Und da unser Körper hochkomplex ist, geht das erst jetzt mit Hilfe der neuesten Technologien. Unsere Mitglieder haben viele dieser Technologien entwickelt und gehören in ihrer Anwendung zu den Besten der Welt.

LifeTime-Initiative, Organoide
Bild: Agnieszka Rybak-Wolf / MDC, LifeTime

Was bedeutet „interceptive medicine“?

Rajewsky: Im Deutschen gibt es leider keine richtig gute Übersetzung für das Wort „intercept“. Auch im Englischen klingt der Begriff für viele noch ungewöhnlich im medizinischen Kontext. Man benutzt das Wort zum Beispiel im Sport. Dort beschreibt es ein gegnerisches Manöver oder es bedeutet „einen Ball abfangen“. Genau das soll interceptive medicine“ auch tun: eine Krankheit abfangen, bevor sie einen Angriff starten kann und die menschliche Gesundheit in einen Rückstand gerät.

Welche Methoden und Technologien braucht man dafür?

Rajewsky: Im Zentrum von LifeTime stehen drei Technologiebereiche. Zum einen wollen wir uns viele einzelne Zellen je ganz genau anschauen und analysieren, welche Prozesse zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade in ihnen ablaufen. Dazu benötigten wir besondere Mikroskopietechniken und zum Beispiel das sogenannte single-cell RNA sequencing. Damit können wir für viele einzelne Zellen in einem Organ sehr effizient auslesen, welche Gene sie gerade ein- oder ausschalten. Diese Methode wurde übrigens 2018 vom Wissenschaftsmagazin Science zum Durchbruch des Jahres gekürt und dabei wurde auch der Beitrag zahlreicher Partner unseres Projekts besonders hervorgehoben.

Zweitens sind Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen wichtig, um wirklich neue Erkenntnisse aus den großen Datenmengen zu gewinnen, die wir erzeugen. Sie werden auch dabei helfen, neue Behandlungsansätze und Therapiemöglichkeiten auszuloten.

Der dritte Technologiebereich sind experimentelle Krankheitsmodelle wie die bereits oben erwähnten Organoide aus menschlichen Zellen, aber in begrenztem Umfang auch Tiermodelle. Essenziell ist es, diese Technologien zu kombinieren und auf Krankheiten anzuwenden.

Unser Ziel ist es, auf Tierversuche irgendwann weitgehend verzichten zu können.

Welche Rolle spielen dabei Tierversuche?

Rajewsky: Wir wollen mit LifeTime vor allem Modelle entwickeln, mit denen wir aus menschlichen Zellen Krankheitsprozesse im Labor nachstellen können, und diese mit den anderen Kerntechnologien der Initiative verbinden. Unser Ziel ist es, auf Tierversuche irgendwann weitgehend verzichten zu können. Zwar wächst das Gebiet rasant und es gibt beindruckende Fortschritte mit Organoiden, die manchmal auch Mini-Organe genannt werden. Aber noch sind diese Methoden nicht ausgereift. Gerade bei komplexen Krankheiten sind wir noch auf Tierversuche angewiesen. Zum Beispiel können wir mit Organoiden die Wechselwirkungen verschiedener Organe aufeinander noch nicht so gut nachvollziehen oder die Funktion und Bewegungen von Immunzellen im ganzen Körper abbilden. Deswegen sollen auch Tiermodelle weiterentwickelt und verbessert werden, wobei natürlich unsere Partner dem Prinzip der „3R“: Replace (Vermeiden), Reduce (Verringern) und Refine (Verbessern) als Richtlinie folgen.

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