Eine Richtlinie der Europäische Union (2010/63/EU) schreibt vor, wie Tiere in der Forschung tiergerecht gehalten werden müssen: Zugang zu Wasser, Einstreu und Nistmaterial, Gruppenhaltung je nach Sozialverhalten, und die Möglichkeit, natürliche Verhaltensweisen auszuleben. Doch Wissenschaft und moderne Technik gehen längst einen Schritt weiter. Digitale Überwachungssysteme und künstliche Intelligenz eröffnen neue Wege, um das Wohlbefinden der Versuchstiere zu erfassen und gleichzeitig die Qualität der Forschung zu verbessern.
Um diese Entwicklung voranzutreiben, wurde 2021 das europäische Netzwerk TEATIME gegründet, gefördert von der Organisation COST (European Cooperation in Science and Technology) der EU. Hier arbeiten Forschende, Ingenieur*innen, und Ethikexpert*innen aus vielen Ländern zusammen, um sogenannte Home-Cage-Monitoring-Technologien (HCM) weiterzuentwickeln. Ziel ist es, Tierhaltung und Tierwohl zu verbessern und zugleich optimierte Bedingungen für reproduzierbare Forschung zu schaffen. Im September 2025 hat das internationale Projekt mit einer Abschlussveranstaltung in Helsinki seine Schlussphase erreicht.
Verbesserungsbedarf bei klassischen Methoden
Lange war es in der biomedizinischen Forschung üblich, Labornagetiere zu bestimmten Zeitpunkten aus ihren Käfigen zu nehmen. Sei es, um den Gesundheitszustand in der Tierhaltung zu überprüfen oder um spezifisches Verhalten im Tierversuch zu messen. Doch auf diese Weise gehen wichtige Informationen verloren oder werden verfälscht. Studien zeigten häufig, dass das so genannte Handling durch den Menschen Stress bei Nagetieren auslöst. Und dieser Stress kann das Verhalten der Tiere über mehrere Stunden hinweg beeinflussen. Darüber hinaus reagieren zum Beispiel männliche und weibliche Mäuse unterschiedlich auf Handling. Die Reaktion der Tiere auf diesen Stress reicht von stressbedingtem Verhalten über erhöhte Körpertemperatur bis hin zu veränderter Aktivität und Futteraufnahme. Das mindert nicht nur die Reproduzierbarkeit der Daten, sondern beeinflusst auch das Wohlergehen der Tiere.
Home-Cage-Monitoring auf dem Vormarsch
Home-Cage-Monitoring-Systeme setzen genau dort an. Sie überwachen die Tiere kontinuierlich in ihrer gewohnten Umgebung, ohne dass sie gestört werden. Tatsächlich zeigte sich, dass die Aktivität und anderes Verhalten von Mäusen, das durch HCM im Heimkäfig getestet wurde, über verschiedene Labore hinweg konstant bleibt und somit eine gute Reproduzierbarkeit gegeben ist. Außerdem sind die Tiere weniger häufig dem Handling durch den Menschen ausgesetzt, wodurch eine stressige Prozedur entfällt. Eine Studie zeigte zum Beispiel, dass das Herausnehmen und Fixieren eines Nagetieres zur Messung der Körpertemperatur durch den Stress zu einer Hyperthermie, also zu einem Anstieg der Körpertemperatur, führen kann. Daraus kann eine verfälschte Messung resultieren. Bei der Körpertemperaturmessung durch HCM passiert dies nicht. Home-Cage-Monitoring kann also zuverlässigere Daten liefern und führt zu weniger Eingreifen ins das Käfigleben der Tiere, ein Aspekt des Refinement im Rahmen des 3R-Prinzips (Replace, Reduce, Refine). Refinement bedeutet, Tierversuche so zu gestalten, dass das Wohlbefinden der Tiere verbessert und ihr Leiden minimiert wird.
Wie Künstliche Intelligenz den Käfig beobachtet
HCM ermöglicht die durchgängige Sammlung von Daten über das Verhalten und den Gesundheitszustand von Versuchstieren in ihren Käfigen. Dank neuer Technologien und künstlicher Intelligenz ist das Spektrum an messbaren Parametern im Heimkäfig der Tiere breit. Herzfrequenz, Körpertemperatur und Verhaltensparameter wie Fress- und Sozialverhalten können in Echtzeit ermittelt und analysiert werden. Die Tiere bekommen davon nichts mit.
So misst eine Kombination aus Infrarotsensoren und Kameras die körperliche Aktivität der Tiere. Änderungen in schwachen elektromagnetischen Feldern lassen Bewegungen nachvollziehen und KI-Systeme analysieren Verhaltensmuster. Auf diese Weise können beispielsweise Anzeichen von Stress oder Krankheit frühzeitig erkannt werden, während eine umfassende Analyse der gesammelten Daten für die Forschung bereitsteht.
Von der Maus bis zum Affen: Automatisierte Tierbeobachtung in Aktion
Eine aktuelle Übersichtsarbeit des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) in Zusammenarbeit mit dem TEATIME-Netzwerk schreibt dem Einsatz von digitaler und automatisierter Überwachung von Versuchstieren eine wachsende Bedeutung in Europa zu. Immer mehr Forschungseinrichtungen setzen auf HCM-Systeme.
In Deutschland nutzt man zum Beispiel ein kamerabasiertes Überwachungssystem, welches sich an Käfigracks nachrüsten lässt, bereits am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik und an verschiedenen Universitäten. Forschende nutzen dieses System z.B. für wissenschaftliche Untersuchungen. Neben diesen nachrüstbaren Systemen gibt es auch Monitoring-Systeme, die bereits in die Käfige integriert sind. Hierbei sind elektronische und Infrarot-Sensoren in den Käfigböden verbaut. Diese überwachen zum Beispiel den Zustand des Einstreus sowie die Füllstände bei Futter und Wasser. Außerdem kann die Sensorplatte im Boden die Aktivität des Tieres erfassen und erkennt schnell, wenn ein Tier abnormale Aktivitätsmuster zeigt. Diese Daten dienen vor allem dem täglichen Umgang mit den Tieren in der Tierhaltung.
Das Deutsche Primatenzentrum – Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ) in Göttingen überträgt das Prinzip des automatisierten Monitorings auf die Forschung mit Primaten. Mit dem PriCaB (Primate Cognition and Behavior) ist ein Forschung- und Haltungsgebäude im Aufbau, in dem Kamerasysteme in Verbindung mit KI-gestützter Analyse den Gesundheitszustand, das Verhalten und die kognitiven Fähigkeiten der Tiere jederzeit individuell erfassen.
Herausforderungen
So vielversprechend die neuen Technologien zur automatisierten Überwachung der Tiere auch sind, ihr Einsatz ist noch mit einigen Hürden verbunden. Technische und infrastrukturelle Aspekte spielen dabei eine große Rolle. Nicht jedes System lässt sich problemlos in bestehende Käfige integrieren und die Anschaffung neuer Käfiganlagen ist kostenintensiv. Das kann nicht jede Forschungseinrichtung tragen. Hinzu kommt, dass die Nutzung und Wartung der Systeme geschulten Personals bedürfen. Auch auf wissenschaftlicher Ebene gibt es noch offene Fragen. Wie lassen sich die großen Datenmengen effizient auswerten? Und wie aussagekräftig sind bestimmte Messgrößen aus dem Home-Cage-Monitoring für konkrete Fragestellungen?
Die Einführung von Home-Cage-Monitoring in die breite Forschung steht noch einigen technischen und organisatorischen Hürden gegenüber. Beispiele aus der Praxis und die Ergebnisse der aktuellen Übersichtsarbeit des BfR zeigen jedoch, dass sich die Investition in die neue Technologie lohnt. Das hat auch das europäische TEATIME-Netzwerk erkannt und treibt die Etablierung von HCM aktiv voran. Die Fortschritte zeigen, dass Refinement-Maßnahmen von Tierversuchen nicht nur das Tierwohl verbessern, sondern auch die Qualität und Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse steigern können.