Gast-Kommentar: Ein Plan kann doch nicht schaden – oder?

Gut 1,4 Millionen Unterstützerinnen und Unterstützer fordern die EU-Kommission auf, einen „Fahrplan für die schrittweise Abschaffung aller Tierversuche in der EU vor Ende der laufenden Wahlperiode“ vorzuschlagen. Olivia Masseck ist Professorin für Synthetische Biologie an der Universität Bremen. Sie kommentiert, was das aus ihrer Perspektive bedeutet.

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Gast-Kommentar zur EU-Bürgerinitiative „Für den Schutz kosmetischer Mittel ohne Tierquälerei und ein Europa ohne Tierversuche“ von Olivia Masseck

Ein Fahrplan ist eine gute Idee, wenn man ein Ziel erreichen will. So ein Plan ist allerdings nur eine von insgesamt drei Forderungen der Petition. Im Fokus bei der Gewinnung von Unterschriften stand jedoch ganz klar und plakativ die Kosmetik. Denn Tierversuche für Kosmetika rufen noch die heftigsten Reaktionen und die größte Ablehnung hervor. Das ist verständlich, denn der Grundsatz „Kein Tierleid für Luxus“ ist gesellschaftlicher Konsens. Genau deshalb sind Tierversuche für Kosmetika im Sinne des Verbraucherschutzes bereits seit vielen Jahren in Deutschland ab 1986 und in der gesamten EU ab 2004 schrittweise verboten worden. Selbst die Einfuhr von Kosmetik, die in anderen Teilen der Welt an Tieren getestet wurde, um die nötigen Sicherheitsdaten zu erhalten, ist verboten – ein starker Anreiz für international tätige Hersteller von Kosmetikprodukten, auch in anderen Ländern auf die Anerkennung der EU-Vorgaben zu drängen. (Warum die Petition aus bestimmten Gründen dennoch Handlungsbedarf sieht)

Die Forderung, einen Plan aufzustellen, wie man komplett aus Tierversuchen aussteigen könnte, erscheint erst einmal logisch: Sollte es nicht selbstverständlich sein, einen Plan zu haben, wenn die EU sogar selbst in ihrer Richtlinie die Beendigung aller Tierversuche als ultimatives Ziel festgelegt hat? Was könnte also falsch daran sein, sich die gegenwärtige Situation anzuschauen und dann – mit Blick auf das Ziel – Maßnahmen zu erarbeiten, die dorthin führen?

Gegenwärtig verfolgt die EU mit der Richtlinie 2010/63/EU das „letztendliche Ziel“, Tierversuche vollständig zu ersetzen, sobald dies wissenschaftlich möglich ist. Grundsätzlich sind Tierversuche nur dann erlaubt, solange es keine Alternative gibt. Durch die konsequente Umsetzung des 3R-Prinzips werden schon jetzt in einem schrittweisen Prozess immer mehr Versuche durch tierversuchsfreie Alternativen ersetzt, bis es irgendwann gar keine Versuche mehr geben sollte. So weit, so sinnvoll. Allerdings – und das ist der Kern der Sache – fehlt eine Frist für das Erreichen des Ziels, Tierversuche vollständig abzuschaffen. Zeitlich eingegrenzt wird dieses Ziel in der EU-Richtlinie lediglich durch den Zusatz: „sobald dies wissenschaftlich möglich ist“.

Prof. Olivia Masseck

Dieser Zusatz hat allerdings einen guten Grund. Ihn zu streichen, würde automatisch einen bitteren Verzicht bedeuten. Wenn man Tierversuche verbietet, bevor dies wissenschaftlich möglich ist, d.h. solange es keinen gleichwertigen Ersatz gibt, dann wird man schlicht und einfach auf die Erkenntnisse aus diesen Versuchen verzichten müssen! Das betrifft uns alle. Nicht nur neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung würden fehlen, sondern auch die biomedizinische Forschung sowie die Entwicklung neuer Medikamente würden ins Stocken geraten. Diese Erkenntnisse müssten dann womöglich im nicht-europäischen Ausland gewonnen werden (unter teils deutlich schlechteren Tierschutzbedingungen). Da wir natürlich trotzdem von neuen Medikamenten und Therapien profitieren wollen, müssten wir diese Erkenntnisse reimportieren. Aber wenigstens haben wir uns ja dann die Hände nicht schmutzig gemacht.

Das Problem: Eine Deadline für Tierversuche ist politische Willkür

Aber genau darum geht es den Organisator*innen der Petition: Sie wollen eine feste Frist, eine Deadline für Tierversuche in der EU – auch wenn es bis dahin keinen vollständigen Ersatz für diese gibt.

Doch auf welches Datum sollte diese Deadline gesetzt werden? Wichtig ist zu verstehen, dass dies keine wissenschaftliche Frage ist. Denn die wissenschaftliche Herangehensweise ist ja die, die wir bereits haben: sobald wie möglich. Jedes festgelegte Datum muss daher bedeuten: schneller als möglich! Und damit kann es auf die Frage nach einem Datum nur eine rein politische – also mehr oder weniger willkürliche – Antwort geben. Die Petition wünscht sich ein „ehrgeiziges, anspruchsvolles und weitreichendes aber auch realistisch erreichbares“ Zieldatum. Das erscheint wenig hilfreich bei der Datumsfindung. Die bisherigen Forderungen etwa von PETA und anderen organisierten Tierversuchsgegnern sind da viel eindeutiger: Tierversuche unverzüglich abschaffen! Tatsächlich lesen sich die bisherigen Vorschläge für solche Ausstiegspläne auch als Aufforderung, umgehend alle Tierversuche zu stoppen. Der sogenannte „Research Modernization Deal“ von PETA zum Beispiel ist kein Plan zur schrittweisen Reduzierung von Tierversuchen. Es handelt sich vielmehr um einen Forderungskatalog, welche Tierversuche als erstes durch neue Gesetze abgeschafft gehören. Auch andere Vorschläge liefern leider wenig neue Anhaltspunkte, wie so ein Ausstiegsplan aussehen könnte und wie man ein Zieldatum und evtl. Meilensteine auf dem Weg dorthin sinnvoll formulieren könnte.

Nun kann man einwenden, die Petition habe ja auch keinen Plan angeboten, sondern lediglich einen gefordert. Um die Ausgestaltung soll sich eben die EU-Kommission kümmern. Weil der Richtlinie der EU jedoch keine konkrete Deadline hat, kommt die Forderung nach einem solchen Fahrplan praktisch der Forderung nach einem sofortigen Stopp von Tierversuchen gleich. Einem ähnlichen Verlangen des EU-Parlaments im September 2021 hat die Kommission in einer Antwort vom Februar 2022 eine klare Absage erteilt. Man tue bereits, was man könne und wolle nicht vom schrittweisen, wissenschaftlichen Vorgehen, „sobald wie möglich“ abweichen, liest man zwischen den Zeilen der bürokratisch formulierten Antwort heraus. Was könnte die Kommission also tun, um den Petenten mit ihren mehr als eine Million Unterstützenden – und nicht zuletzt den Tieren – entgegenzukommen? Nun, ich denke, es könnte sehr wohl eine Art Plan geben – man müsste nur dessen Ziele anders formulieren. Wenn wir nicht von einer festen Deadline ausgehen, sondern sicherstellen wollen, dass das „sobald wie möglich“ auch tatsächlich eine möglichst kurze Zeitspanne bedeutet, dann gibt es durchaus Stellschrauben, an denen die EU drehen könnte. Grundsätzlich sollte ein Plan sich nicht einseitig auf Abschaffung konzentrieren, sondern Tierschutz und wissenschaftlichen/medizinischen Fortschritt gleichrangig in den Blick nehmen, so wie es auch das neue Thesenpapier der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vorsieht.

Schneller aus dem Labor in die Praxis

Einsparpotenziale gibt es vor allem bei den regulatorischen Versuchen, da hier hoch standardisierte Versuche zu immer den gleichen Fragestellungen verwendet werden – aber auch Regularien wie etwa die Zulassungsvoraussetzungen müssen flexibler werden – so etwas könnte in einem Plan integriert und aufgeführt werden.

Da wären vor allem die erschreckend langen Zeiten, die es braucht, bis neue tierversuchsfreie Technologien aus dem Labor in die Praxis bei Zulassungsbehörden für Arzneimittel und Chemikalien wandern. Bis heute sind viele Tierversuche in diesem Bereich gesetzlich vorgeschrieben. Es ist Konsens, dass wir diese Sicherheitsdaten dringend brauchen, um Mensch, Tier und Umwelt zu schützen. Allerdings dauert es Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte, bis eine neue Methode einen etablierten Tierversuch in diesem internationalen Regelwerk ersetzt. Bürokratie und Aufwand sind dermaßen hoch, dass viele neue Methoden, die in akademischen Labors entstehen, es niemals bis in die Routineanwendung schaffen. Das liegt nicht zuletzt auch an der Art der Forschungsförderung. Diese unterstützt zu häufig nur die ersten grundlegenden Schritte. Und es fehlt an der Kenntnis über die nötigen weiteren Schritte von der Idee zum Produkt. So bleiben zu viele gute Ansätze zur Reduktion von Tierversuchen zu lange nur graue Theorie. Neben dem nötigen Kleingeld fehlen auch Unterstützungs- und Beratungsangebote. Hier könnte ein Plan, im Sinne mehrerer ineinandergreifenden Aktionen, durchaus eine Beschleunigung bewirken.

Dass sich die EU dringend Gedanken machen muss, liegt auf der Hand. Mit Einführung des Green Deals kommen erhöhte Ansprüche an die Sicherheit von Chemikalien und Lebensmitteln für Mensch, Tier und Umwelt auf uns zu, die Regularien werden verschärft und erweitert und viele der neuen Anforderungen lassen sich derzeit nur mit Tierversuchen erreichen (mehr dazu im ausführlichen Hintergrundartikel zur Petition). Hier würden wir also eine Ausweitung von Tierversuchen erwarten, die den Bemühungen der Reduktion entgegenläuft. Es muss dringend überlegt werden, wie diese Sicherheitsdaten auch ohne Tierversuche beschafft werden könnten.

Abgrenzung zu anderen Ausstiegsplänen

Bei anderen bekannten gesellschaftlichen Ausstiegsplänen (Atomausstieg, Kohleausstieg, CO2-Neutralität, etc.) gibt es bereits Alternativen – ihre Umsetzung ist nicht abhängig von noch unbekannten Innovationen oder Durchbrüchen in der Forschung. Hier muss lediglich geplant werden, wie der Übergang technisch und logistisch umgesetzt wird – das ist in den Lebenswissenschaften nicht der Fall: Viele Werkzeuge, die wir für den Ersatz von Tierversuchen bräuchten, sind noch gar nicht erfunden, weil wir die Grundlagen des Lebens noch nicht hinreichend verstehen. Wir können aber nur nachbauen, was wir bereits gut genug verstehen. Die meisten heute verfügbaren Alternativen, die zurecht als innovative Durchbrüche gefeiert werden, sind das Ergebnis von jahrelanger Forschung und vor allem einem verbesserten Verständnis von zellulären und molekularen Prozessen. Beispiel Stammzellentechnologie, die u.a. für Organoide und Organchips die Voraussetzung ist. Diese Technologie ist das Ergebnis von jahrelanger Grundlagenforschung – auch mit Tieren. Auch hier fehlt es oft an notwendiger finanzieller Unterstützung, um dringend notwendige Forschung voranzutreiben und Wissenslücken zu schließen.

Wir stehen also nicht alternativlos vor einem ewigen „weiter so“, sondern haben bereits mit der EU-Richtlinie ein funktionierendes, flexibles Werkzeug zur schrittweisen Reduktion von Tierversuchen, sobald dies wissenschaftlich möglich. Wir sollten alles daran setzen das bereits Mögliche umzusetzen und das bisher Unmögliche schnellstens möglich zu machen. Es lässt sich allerdings nicht politisch vorschreiben, was bis zu einem bestimmten Zeitpunkt wissenschaftlich möglich sein kann.

Dr. Olivia Masseck ist Professorin für Synthetische Biologie an der Universität Bremen und als Vertreterin der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) Mitglied und stellvertretende Vorsitzende der Steuerungsgruppe von „Tierversuche verstehen“.

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